Protokollbuch der St Johannes Gemeinde am White Creek


Vorbemerkung

Deutsche Auswanderer schufen sich in der neuen Heimat durch harte Arbeit eine eigene Lebenswelt. Sichtbarer Ausdruck dieser Lebenswelt war ihre Kirchengemeinde. Diese begleitete und betreute ihre Mitglieder von Beginn an bis zum Ende. Die neu Eingewanderten, die sich ihr aus freiem Willen anschlossen, sowie den in sie Hineingeborenen sollte sie durch die Fährnisse des Lebens tragen: eine Gemeinschaft auf Gegenseitigkeit. Die Gemeinde konnte dem Einzelnen Halt und Richtung in der Bewältigung von individuellen Befindlichkeiten geben und dieser konnte es zurückgeben in Form von persönlichem Einsatz für das Wohl der Gemeinschaft.

In der Kirchengemeinde wurde das alltägliche Miteinander der Gemeindemitglieder durch eine selbst gelegte Basis, ein eigenes „Grundgesetz“ koordiniert: die Gemeindeordnung oder Constitution.[1] Diese wurde im Laufe der Zeit den äußeren Bedingungen angepasst und an ihr hatte sich jede Gemeinde und jedes Gemeindemitglied messen zu lassen. Schriftliche Aufzeichnungen, wie Kirchenbücher, Protokollbücher, Rechnungsbücher oder Chroniken, wurden das soziale Gedächtnis in der Gemeinde.[2] Die darin festgehaltene geringe personelle Fluktuation ist ein Beweis für die Bodenständigkeit der Gemeindemitglieder. Die Einhaltung der geltenden Norm, festgeschrieben in der Gemeindeordnung, erzwang im Bedarfsfall die Kirchenzucht [3]   in ihren verschiedenen Stufen. Die Gemeindeordnung war somit das Regulativ für die Funktionsfähigkeit der Kirchengemeinde.

Die Bühne, auf der anstehende Probleme behandelt und versucht wurde, sie einer allgemeinverträglichen Lösung zuzuführen, war die Gemeindeversammlung.[4] Hier wurden die laufenden Geschäfte verhandelt, notwendige Entschlüsse über personelle und finanzielle Grundlagen und Veränderungen gefasst und Situationen, die das alltägliche gemeinschaftliche Miteinander in Mitleidenschaft zogen, benannt, besprochen und, so gut es ging, bereinigt. In dieser Problembehandlung zeigte sich das Wesen einer solchen Gemeinschaft. Eine Anzahl von Individuen, untereinander gleichberechtigt, beauftragte als Gemeinde in klar umrissenen Grenzen einige wenige, wie z. B. Vorsteher, Trustees, Pastor, Lehrer oder eine Kommission, mit der Durchführung bestimmter Aufgaben. Jene behielten sich aber das Recht vor, durch Abstimmung, in unterschiedlichen Mehrheiten bis hin zur Einstimmigkeit, die endgültige Entscheidung selbst zu treffen. Die Individuen, zusammengeschlossen in ihrer Kirchengemeinde, wollten sich nicht von Einzelnen vorschreiben lassen, wie sie ihre Probleme zu lösen hatten. Eigenverantwortung und Mitspracherecht, verankert in der Gemeindeordnung, war etwas, was ihnen die alte Heimat mit ihren kirchlich-hierarchischen und auch staatskirchlichen Traditionen oft nicht geboten hatte und auch nicht bieten konnte. Hier in den neuen von den Gläubigen selbst verwalteten Kirchengemeinden in den USA war es Wirklichkeit geworden und dies ließ man sich nicht nehmen. Entsprechend waren die Handlungsweisen, die zeigten, dass eine solche gewählte Organisationsform für das alltägliche Miteinander in der Kirchengemeinde eine wesentliche Voraussetzung für deren Lebensfähigkeit und Lebendigkeit war. Und nur eine lebensfähige und lebendige Kirchengemeinde konnte einen gewissen Schutz bieten gegenüber den noch als fremd empfundenen amerikanischen Lebenswelten, die ringsum gegenwärtig waren.

Sinn einer Kirchengemeinde war es, ihren Mitgliedern zu ermöglichen, einen als richtig erkannten Glauben gemeinsam mit anderen leben zu können. Nach anfänglich wirren Zeiten, in denen gerade gegründete oder schon bestehende Kirchengemeinden ihren Weg noch suchten, schlossen sich verschiedene zu unterschiedlichen Zeitpunkten der Missouri-Synode an. Es entstand ein Verbund, der bis heute andauert.[5]   In den Augen der Gemeindeglieder stellte die Synode sicher, dass die von ihr ausgebildeten Theologen das Wort Gottes rein und unverfälscht lehrten.[6]   Ordentlich berufen und anschließend in ihr Amt ordiniert verstanden die Pastoren sich als Diener des Wortes Gottes im Predigtamt und als Sachwalter des Schlüsselamtes, Ämter also, deren Ausführung ihnen von der Gemeinde übertragen waren. Die meisten von ihnen bewährten sich in der alltäglichen Gemeindearbeit, nicht gerade üppig mit materiellen Gütern ausgestattet, aber doch so von ihren Gemeinden versorgt, dass sie sich um ihren Lebensunterhalt nicht übermäßig sorgen mussten.[7]   Sie prägten ihrer Persönlichkeit gemäß das Bild der Gemeinde mit, mussten sich aber, wie alle anderen Mitglieder, den geforderten Normen stellen, sich vor der Allgemeinheit verantworten, Aufträge entgegennehmen und beschlossene Änderungen im Ablauf des kirchlichen Lebens akzeptieren. In der innergemeindlichen Auseinandersetzung mit Andersgläubigen war der Pastor zwar stets an wichtiger Stelle mit eingebunden, Entscheidungen wurden aber nach öffentlichen Diskussionen in der Gemeindeversammlung getroffen. Damit war auch im religiösen Bereich die Gemeinde der bestimmende Faktor. [8]

Die Kirche im Jahre 1995 (Bild: Antonius Holtmann)

Das Zusammenspiel der Kräfte innerhalb der Kirchengemeinde zeigte sich am deutlichsten in der Gemeindeversammlung. Ins Spiel konnte sich in ihr jeder bringen, das einzelne stimmberechtigte Gemeindemitglied, der gewählte Beamte, der Pastor oder der Lehrer. Einschränkungen konnte es nur für denjenigen geben, der als Vorsitzender der jeweiligen Versammlung gewählt wurde und damit für den reibungslosen Ablauf verantwortlich war.

Mit dem vorliegenden Protokollbuch der Sankt Johannesgemeinde am White Creek blickt der Leser auf eine Kirchengemeinde in einer ländlichen Region des Mittleren Westens innerhalb des Bundesstaates Indiana (USA) und kann deren Organisation auf der Grundlage selbstgegebener Handlungsanweisungen (Kirchenordnung oder Constitution) nachvollziehen. Er erlebt ihre formellen und informellen Führungsstrukturen und deren Auswirkung auf Alltagssituationen, Problemlösungen oder –lösungsversuche. Kleinere und größere Probleme des Alltagslebens werden ausgebreitet: z. B. die Sicherstellung der Versorgung des Pastors/Lehrers u. a. mit Feuerholz (1855, 01, 08), die Bezahlung der Kirchenschulden durch Mitglieder (1872, 01, 01), der Einzelne muss sich vor der Gemeinde wegen der Zurücknahme seiner Unterschrift verantworten (1877, 01, 01), Ärger über die ständige Wegberufung ihres Lehrers (1877, 01, 28), vorausschauende Planung von Bauten (1874, 12, 20), die Gemeinde beschließt, dass der Pastor manchmal englisch predigen soll (1903, 10, 11), eine Mutter verklagt den Pastor, weil er den Sohn in der Schule geschlagen hat (1858, 08, 05 etc.), eine Witwe soll unter Vormundschaft gestellt werden (1897, 02, 07 etc.), ein Mitglied macht Bankrott und soll wegen Verschwendung zur Rechenschaft gezogen werden (1871, 10, 01 etc.), Alkoholprobleme (1888, 10, 28), Unterstützung des Ehebruches seines Sohnes durch den Vater (1896, 07, 25 etc.), eine Verlobte verweigert die Heirat trotz gegenteiligen Gutachtens durch die Missouri-Synode (1873, 03, 30 etc.), eine Frau hat ihren Mann verlassen (1880, 03, 29 etc.), oder ein Mitglied weigert sich, seine Kinder zur Gemeindeschule zu schicken (1871, 03, 26 etc.).

Das Protokollbuch in seiner deutschen Fassung dokumentiert die Ereignisse vom 30. September 1853 bis zum 24. Dezember 1905.

Bei der Transkription des Textes war die Nähe zum Original oberstes Gebot. Das beinhaltet sowohl die orthographischen Fehler als auch schlechte bzw. fehlerhafte Ausdrücke in der deutschen Sprache. Dies wird besonders deutlich in den Protokollen des Zeitraumes 14. Januar bis 23. Dezember 1900, aber nur so war sichergestellt, dass der Wille der Kirchengemeinde in der Niederschrift des Protokollanten unverfälscht dargelegt werden konnte. Nicht immer waren der Lehrer, seltener der Pfarrer, die von der Versammlung eingesetzten „Sekretäre“.

Dank sei gesagt der Johannesgemeinde am White Creek, heute St. John's Lutheran Church (http://www.whitecreek.org), und ihrem Chairman Lloyd D. Meyer, die es ermöglicht haben, dass ihr Protokollbuch interessierten Lesern zugänglich gemacht werden konnte.


Die Kirche im Jahre 2003 (Bild: Harro Eichhorn)



Bemerkungen:

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Anmerkungen:

[1] Hier: Constitution der Deutschen evangelisch-lutherischen St. Johannes Gemeinde am White Creek. Sie regelt das Handeln ihrer Mitglieder, die sich freiwillig zu dieser Kirchengemeinde zusammen geschlossen haben. Die 22 Paragraphen dieser Constitution sind abgedruckt in Harro Eichhorn: Stellenwert und Funktion von Gemeinde, Pastor und Lehrer in Kirchengemeinden der Missouri-Synode des 19. und 20. Jahrhunderts. Auf den Alltagsspuren deutscher Auswanderer in Kirchenbüchern, Protokollbüchern und religiösen Periodika. Anlage 8.1.4., S. 449-454. Diese Arbeit ist als PDF-Datei in dem Ordner „Elektronische Dissertationen an der Universität Oldenburg“ unter dem Link: http://docserver.bis.uni-oldenburg.de/__publikationen/dissertation/2006/eicste06/eicste06.html
herunterladbar und wird im Weiteren als „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“ zitiert.

[2]  Die „Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA (DAUSA)“ verfügt auf Mikrofilm unter anderem über nahezu alle Kirchenbücher und verschiedene Protokollbücher der deutschen Gemeinden von Südostindiana (47 Kirchengemeinden).

[3]  Zu deren Handhabung siehe Kapitel 3.1.4. „Kirchenzucht“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 55-58.

[4]  Ausführungen hierüber siehe Kapitel „Die Gemeindeversammlung“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 58-72.

[5] Die Johannesgemeinde ist seit 1851 Mitglied der Missouri-Synode. Über die Missouri-Synode siehe Kapitel „Kirchliche Heimat: Die Missouri-Synode“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 27-43.

[6]  Grundlage hierfür war Luthers Bibelübersetzung. Sie erschien im Laufe der Zeit in weit über 400 Auflagen. Die 1852 beginnende und 1892/1912 beendete 1./2. Lutherbibelrevision wurde von der Missouri-Synode abgelehnt. Siehe hierzu Kapitel 4.3.4. „Gesangbuch und Bibel“ und Anlage 8.1.12 „Vergleich Lutherbibel/revidierte Lutherbibel 1902“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 234-239; 470-471. Die in den Protokollbüchern angeführten Bibelstellen werden zitiert nach: Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Uebersetzung Dr. Martin Luthers. 414. Auflage. Halle a. d. S., (Canstein’sche Bibel-Anstalt), 1889. Zum besseren Verständnis werden die analogen Verse in der heute gebräuchlichen Einheitsübersetzung beigefügt.

[7]  Zur Bezahlung ihrer Pastoren durch die Gemeinden siehe Tabelle 8.3.3. „Pastorengehälter der Gemeinden in Dollar“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 488-489.

[8]  Zur Einbindung der Pastoren in die Gemeinde siehe Kapitel 4 „Religiöses Gemeindeleben“ in: „Eichhorn: Stellenwert und Funktion“, S. 183-281.



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