| Antonius Holtmann: | Kein Meisterstück oder: Wie "Liwwät Böke" mit fremden Federn geschmückt wurde .... |
Exkurs
Im Archiv
des „Museumsdorf(es) Cloppenburg i. Oldbg.“
befindet sich ein englischsprachiges Typoskript von Vincent Boeke.(28)
Der Autor verbindet, im Rückgriff bis auf das 6. Jahrhundert, vor allem
aber
bis ins 15. Jahrhundert, Daten und Ereignisse mit der Familie Böke im
Umfeld
der Gemeinde Neuenkirchen, die auf Johan Bernhard Böke (25. Oktober
1800 – 13.
Januar 1857: Seite 351) und Margarita Maria Elisabeth Knapke (25.
Januar 1807 –
4. Dezember 1882: Seite 352) zulaufen. Beide Personen bilden den
Bezugspunkt
für allgemeine Daten, Darstellungen und Überlegungen zu Migration,
Akkulturation und Integration der in die USA
Eingewanderten.
Vincent
Boeke lässt Bernhard Böke in einer Familie von
Heuerleuten aufwachsen. Seit Jahrhunderten seien sie Lohnarbeiter auf
Gütern in
Nellinghof gewesen (S. XIV: „They were ‚Huerman’: hired hand in
Nellinghof
Estates for centuries“.). Heuerleute oder Landwirte („Huerman or
husbandman“)
nennt er sie auf Seite 53, auf Seite 58 dann Kleinbauern („peasants“)
mit einem
Landbesitz von 12 acres („The Boekes held twelve acres“; 4,8 Hektar).
Seite 62:
Um 1800, wohl im Zuge der Aufteilung des Gemeindelandes, der
Markenteilung,
seien sie (erst jetzt?) „huerman – hired men“ geworden; so stehe es im
Taufregister von St. Bonifatius in Neuenkirchen. Also wären sie erst
jetzt, und
nicht schon seit Jahrhunderten (?), landlose, zu bestimmten und
unbestimmten
Abgaben und Dienstleistungen verpflichtete Heuerleute geworden, die nur
berechtigt gewesen seien, ein Heuerhaus zu mieten. Sie seien Heuerleute
auf
großen Gütern geworden („Their only right was to rent the cottage in
which they
lived. . . . They were huerman on the great estates, so they did become
cottiers, the Boekes“.).Im Oldenburger und im Osnabrücker Land waren
die „great
estates“ vor allem Bauernhöfe, die bis um die Mitte des 19.
Jahrhunderts
wiederum ihren Grundherren (z. B. Adel, Kirche, Klöster) gegenüber
„eigenbehörig“ waren, z. B. der Kommende Lage. Die
Bauernfamilie besaß ein im
Sterbefall jeweils zu gewährendes erneuerndes Erbrecht auf
Bewirtschaftung des
Hofes, wofür jährliche Sach- und Dienstleistungen zu erbringen waren.(29)
Aber weiter
im Text.
Hier reisen
Liwwät und Bernhard gemeinsam. 1837 seien sie
„in Saan Jaan“ (Minster, Ohio) eingetroffen (Seite XV) und nicht 1833 und 1835 (Vgl. Anm. 9).
Man habe im
Heimatort oder in dessen Nähe nicht wissen
können, wann ein Schiff in Bremen ablege (Bremerhaven wird nicht
erwähnt.). Auf
gut Glück habe man sich nach Bremen auf den Weg gemacht, um
Reisemöglichkeiten
und Passagepreise mit den Kapitänen auszuhandeln. Im Zwischendeck seien
sie
gereist, für 12 Thaler. Es habe keine festen Passagepreise gegeben.
(„no
established rates“). Und die Kapitäne seien halt in der vorteilhafteren
Verhandlungsposition gewesen. Liwwät und Ben hätten sich selbst
versorgen
müssen. Wenn einigen die mitgebrachten Kartoffeln ausgegangen seien
(„the
potatoes ran out“), habe man dem Kapitän nicht selten den letzten
Besitz
hergeben müssen. Der habe auch schon mal eine längere Reisedauer
vorgetäuscht
und so Profit aus dem Verkauf von Lebensmitteln und „grog“
herausgeschlagen.
Gelebt und geschlafen hätten Liwwät und Ben zusammen in einer Koje
(„bunk“), 10
Fuß (3m) breit, 5 Fuß (1.50 m) lang und weniger als 3 Fuß (0.90 m) hoch
(Seiten
90-95).
Als
Gemeinsamkeiten mit „Liwwäts“ Reisebericht („Den
Weg nao Amerika hen“) fallen die
Verhandlungen über Reisekosten und Reisemöglichkeiten mit Kapitänen bzw. "Schiffenrentmeister" und
nicht
mit Maklern oder deren Agenten auf, aber auch die Einschiffung in der
Stadt
Bremen und nicht schon im neuen Bremerhaven (Vgl. Anm. 15).
Die
Unterschiede sind gravierend. Hier liegt der
individuell auszuhandelnde Passagepreis bei 12 Thaler; bei „Liwwät“
sind es,
ebenfalls individuell ausgehandelt, 30 bis 40 Dollar. Hier schlafen
beide
zusammen im Zwischendeck in einer mit eigens erworbenen Strohsäcken
ausgestatteten Koje; „Liwwät“ schläft dagegen im Zwischendeck in einem
mit
Türen versehenen Alkoven. Hier beköstigt man sich selbst aus den
eigenen
Vorräten; bei „Liwwät“ ist die Verpflegung inklusive. Hier kommen beide
1837
gleichzeitig in Minster/Ohio an; bei „Liwwät“ erreichen sie jeweils
alleine
Baltimore, 1833 („Natz“) und 1835 („Liwwät“).
Gemeinsamkeiten
oder Unterschiede bei „Liwwät“ und
Vincent Boeke: Realitätsgerecht sind sie häufig nicht. De facto
vermittelten
seit 1832 in Bremen Makler und deren Agenten im Lande die Überfahrt zu
festen
Preisen und weitgehend verbindlichen, wenn auch nicht garantierten
Terminen auf
benannten Schiffen. Erst in Bremerhaven ging man an Bord der
seetüchtigen
Segler. Im Zwischendeck gab es keine Alkoven. Die Verpflegung, mag sie
im
Zwischendeck zuweilen auch sehr dürftig gewesen sein, um z. B. den
Gewinn zu
erhöhen, war auf Bremer Schiffen mit den Reisekosten bezahlt.
Identische,
auch widersprüchliche und
den Realitäten nicht entsprechende
Angaben im Typoskript von Vincent Boeke reduzieren nicht den generellen
Fälschungsverdacht gegenüber dem „Schriven
un Maolen“ der „Liwwät“ Böke. Vincent Boeke gerät ins Visier:
Er gerät in
Verdacht, nicht sorgfältig genug gefälscht zu haben.
Vincent
Boeke schreibt auf Seite III, die meisten
Ausführungen im Typoskript verdanke er seiner Vorstellung
(„imagination“),
seiner Erinnerung („memory“) und den Erzählungen und dem Gedächtnis
(„stories
and recollection“) der Großeltern, denen die erste Generation der
Einwanderer
noch vertraut gewesen sei. Er habe darauf verzichtet, die Übernahme von
längeren Texten und Zitaten aus der von ihm (unsystematisch)
aufgelisteten
Literatur zu kennzeichnen („Other accounts, historical facts are taken
direct
but are not so indicated; ie., as being quoted verbatim whole or only
in
part.“).
Auf Seite
376 schreibt Vincent Boeke: „Quod scripsi,
scripsi“ (Lateinisch: „Was ich geschrieben habe, habe ich
geschrieben.“).(30)
Und direkt anschließend das Postscriptum („P. S.“): „Who is normal? Who
judges? Who
appoints the judge - to judge whom?
So, don`t judge Liwwät, as a
source; nor me. („Wer ist
normal? Wer
fällt ein Urteil? Wer beruft den Richter
- um
über wen ein Urteil zu
fällen? Also fällt kein Urteil über Liwwät, als eine Quelle, auch nicht
über
mich.“)
Ob ein
listiger, vielleicht auch verlegener Vincent
Boeke uns darauf hinweisen möchte, dass vor allem Vorstellungskraft,
Erinnerungen und Erzählungen dem zugrunde liegen, was „Liwwät“ und er
zu Papier
gebracht haben? Ob Vincent Boeke andeuten möchte, dass Liwwät Böke
gelebt hat,
dass sie als „Liwwät“ aber auch seiner phantasievollen Imagination zu
verdanken
ist?
Der Übersetzer und Herausgeber, Luke Knapke, schreibt „About Liwwät’s Papers and Vincent Boeke“ (11/12; 191-193): „Ohne sein Werk wäre Liwwät ganz sicher ein Geheimnis geblieben. ... Vincent Böke war ein unerschrockener (unabashed) (31) Enthusiast, wenn man auf Liwwät oder aufs Plattdeutsche zu sprechen kam. Er versuchte alle zu überzeugen, dass schon Adam und Eva plattdeutsch gesprochen haben." Er zitiert Vincent Böke: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie mein Leben ohne Liwwät verlaufen wäre."
In „Mien
Schriwen un Maolen“ („My Writing and Drawing“, 85) schreibt
“Liwwät”
abschließend unter Punkt 13: „Villicht in
twintig, diärtig of nieggenssig Jäöhren kannt mine Kinnes-kinner miene
Schriewen
läisen un minen verschedene Maolen onkieken un biättere verstaohren wekke
se
sint un dat Natz un Ik wirklik sint lebennig woern. Liwwät
1845“. (LK:
„Perhaps in
twenty, thirty or ninety years my children’s children will come to read
my
writings and to look at my various drawings and they will better
understand who
they are, and will know that Natz and I were really living
persons”.)
[29] Vgl. hierzu beispielhaft und ausführlich Jürgen Schlumbohm: Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in protoindustrieller Zeit, 1650-1860. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1994, insbesondere Kapitel 7: „Höfe: Verbund bäuerlicher und landloser Haushalte“ (539-620).
[30] Vgl. in der Bibel Johannes 19, 19-22 zur Inschrift auf Jesu Kreuz: „Scripsit autem et titulum Pilatus: et posuit super crucem. Erat autem scriptum: ‚Iesus Nazarenus, Rex Iudaeorum’. . . . Dicebant ergo Pilato Pontifices Iudaeorum: noli scribere ‚Rex Iudaeorum’, sed quia ipse dixit: ‚Rex sum Iudaeorum’. Respondit Pilatus: ‘Quod scripsi, scripsi’.“ („Pilatus aber schrieb eine Aufschrift und setzte sie auf das Kreuz; und es war geschrieben: ‚Jesus von Nazareth, der König der Juden’. . . . Da sprachen die Hohenpriester der Juden zu Pilatus: Schreib nicht: ‚Der König der Juden’, sondern, dass er gesagt hat: ‚Ich bin der König der Juden’. Pilatus antwortete: ‚Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben’.“)
[31] unabashed = 1. "unverschämt, unverfroren, schamlos"; 2. "unerschrocken, furchtlos." Siehe: Cassell's German=English / English-German Dictionary. New York: Macmillan 1998.
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