Antonius Holtmann:

Kein Meisterstück oder: Wie "Liwwät Böke" mit fremden Federn geschmückt wurde ....



„My Early Life“ (53-60)


Dieses hochdeutsche Manuskript enthält Abschnitte in einem solch schlechten Deutsch, dass es nicht (von „Liwwät Böke“ signiert) von einer Frau geschrieben sein kann, die neben dem Plattdeutschen auch das Hochdeutsche beherrscht haben soll. Beispiele (übertragen ins Englische von Luke Knapke):
 
„Schon in meinem vierten Jahre schickten mich meine Eltern zu einem Schullehrer, Namens Antonius, in die Lage Kloster, da sie mir in Gunsten eingenommen hatte.“
„Already in my fourth year my parents sent me to a schoolteacher, by the name Antonius at the Lage Kloster where they had taken me in as a favour.” (53) -;

„Als ihm späterhin das Schule abgenommen wurden, kam ich in vor dem Herrn Abt, bey welcher, bey welcher sehr brawer Lehreren angestellt war. Hier hörte ich viel Gutes, welches auf mein Herz einen um so tieferen Eindruck machte, da ich bey meinem ersten Lehrer nie etwas der Art vernommen hatte.“
„When the school later on removed him, I came before the Reverend Abbot from which very upright teacher (he was assigned here) I learned many good things, which made so deep an impression on my young mind, indeed I had never received anything of the kind from my first teacher.” (53) -;

„Mit meinem Eintritt in den Lehrlingsschaft für Hebammendienst.“
„With my entry in apprenticeship for midwife service.“ (53) -;

„Studieren und Ausübung mit Schwangerschaft und Kindes-Entbindung, dies war auch nicht anders möglich.”
„Studying and practicing with pregnancy and child delivery made all else impossible.” (53) -;

“Ich hätte die Prüfung bestehen und gehörig honoriert werden, so dass ich sagte: ‚Ich bin jetzt ein Würde Hebammen’, im Jahre 1828.“
„I had passed the examinations and was suitably honored so that I said: Now I am a dignified Midwife, in the year 1828.” (53) -;

„Die Zeiten waren jammer un hungerlich.“
„The times were miserable and starving.” (57) -;

„Wenn ich nun aus meinen Fenster dem schönen Harmonischen Gesang zuhörte, so war mir nichts anders zu Muthe, als stände ich im Vorhof des Himmels. Gern wär ich wol in die Versammlungen gegangen, allein ich schämte mich mitleidige Kleidungsstuke und ohne Schuhe vor den Leuten, und dachte sie wissen alle, wer armseligkeit und doch wissenschaftlich gebildet.“
„Now, when from my window, I listened to the lovely harmonious singig, I felt as if I were standing in the vestibule of heaven. I would gladly have gone to the gatherings, only I was ashamed of my pitiful clothes and was without shoes. So I thought, ‘If you appear thus in front of the people they will all know your wretchedness, no matter how thoroughly educated you are’.” (57) ;
„den Zug an den Gartenmusiker und Lustbarkeit.“
“the attraction of the garden musicians and amusements.” (57) -;

„Hierauf entdeckte wir unser Eltern und die Autorität unser Vorhaben, zur Amerika Ehebund zu geben.”
„At this we disclosed to our parents and the authorities our intention of going to America as man and wife.” (57) -;

„In 1833 hatte ich die Freude hier in Alfhausen und Bieste mein lieben Natz, mein Ehemann Herrn Böke fröhlich nach Bremen zu reisen, bald angestelt worden in Segelschiff. ‚Adjüs’“. “In 1833 I had the pleasure here in Alfhausen and Bieste of seeing my beloved Natz, my husband, Herr Bernard Böke, happily journey to Bremen, soon to be installed on a sailing vessel. ‚Adieu’.“ (60) -;

„trat ich ein vorausgeßt ledigen Mädchen auch in Segelschiff, und in drei monaten, unner vielen Hindernisse, in den Weg legen, zuleßt in Ausschöpfung und Müede wär ich wieder bi Nätz geküsset: ein herzhafter und Kraftiger Kuß. 1835.“
[In vertretbares Deutsch übertragen: „Auch ich, die ich für ein lediges Mädchen gehalten wurde, betrat ein Segelschiff, und in drei Monaten, nach vielen Hindernissen, die uns im Weg standen, zuletzt erschöpft und müde, wurde ich wieder von Natz geküsst: ein herzhafter und kräftiger Kuss. 1835.“] –
„I, a presumed unmarried maiden, also boarded a sailing ship, and in three months, in spite of obstacles along the way, exhausted and weary, at last was kissed again by Natz, a bold and effective kiss. 1835.“  (60).



Baltimore Quarterly Abstracts, National Archives, 2. Quartal 1833.(9)



Luke Knapke hat an einigen Stellen unzulängliches „englisches“ Deutsch in ordentliches Englisch übersetzt, nachdem „Liwwät“ zuweilen aus ordentlichem Englisch englisches Deutsch abgeleitet hatte.
Dieser Text ist eine Mischung aus gelungenem und missratenem Deutsch, in durchgehend gleicher Handschrift. Ein Beispiel für gelungenes Hochdeutsch, das sich an unzulängliches („Würde Hebammen, im Jahre 1828“) anschließt, mit gleitendem Übergang: „In dieser Welt leart ich dass mit Gott und etwas Hulfe mir geben ist bald alles möglich. Wir mussen immer andenken an den Mann, der sich auch für unsere Sünden ans Kreuz hatte schlagen lassen, war meiner armen Seele noch nicht so nahe gekommen, dass ich mich ihm hingegeben hätte, doch hielt er mein unerfahrenes zum Leichtsinn neigendes Herz immer in seiner Hand, und bewahrte mich, mir unbewußt, vor groben Verirrungen. In meinem Leichtsinn besuchte ich auch fleißig den Tanzboden. Bei einer solchen Gelegenheit zog ich mir durch übermäßige Erhitzung und eine darauf folgende Erkältung eine tödtliche Krankheit zu . . .  .“ (“In this world I learned that with God, and some help we give, almost anything is possible. We must always think of the Man who allowed himself to be crucified for our sins. My pour soul had not yet come so close that I surrendered myself to him. Nevertheless he held my inexperienced, frivolously-inclined heart always in his hand, and, unknown to me, protected me from gross errors. In my frivolity I frequented the dance hall. On one such occasion, because of excessive heating and subsequent chill, I caught a deadly illness . . ..”)

Der Text ist z. T. abgeschrieben, ergänzt durch das eigenständige unzulängliche Hochdeutsch der fiktiven „Liwwät“ immer dann, wenn der nicht verallgemeinerungsfähige Lebensvollzug der Liwwät Böke, für den es keine Vorlagen gibt, zur Sprache kommt. Wer so gut schreiben kann, verliert sich nicht in einem und demselben Text in sprachliche Dürftigkeit. Und wer so schlechtes Deutsch zustande bringt, bereichert es nicht mit gelungenen Sequenzen.
Was schon die Sprache verrät, bestätigen einige Inhalte.

„Liwwät Böke“ berichtet über ihr Leben (1807-1835) in Deutschland, in Nellinghof und Neuenkirchen, in Bieste und in der Klosterschule der Kommende Lage, einem Kloster des Johanniterordens in Rieste.  Die Namen ihrer Lehrer hat der Herausgeber aus „Liwwäts“ Manuskripten zusammengetragen: den des Kunsterziehers Pontius und des Bruders Antonius, den des Priesters Musel, des Lehrers Paue Frechette und des Geistlichen Professor Rochelle. (9)
Keiner dieser Namen wird in den relevanten Akten des Staatsarchivs Osnabrück(10) wohl aber der Benediktinerpater Ludgerus Pölking als Pastor der katholischen Kirchengemeinde Lage (1800-1836) und dessen Kapläne Karl Ernst (1818-1823) und Anton Adam Strieker (1823-1828). Der Schulmeister Piepmeyer unterrichtete von 1793-1848 in der Schule dieser hoch verschuldeten Gemeinde mehr als 100 Kinder. Die Akten berichten von 210 Kindern im Jahre 1848 und von 177 Kindern im Jahre 1860, die jeweils nur von einem Lehrer unterrichtet wurden. 1688 hatte der Orden in Rieste eine Volksschule gestiftet, aber dort niemals unterrichtet.
Im Alter von 4 Jahren sei „Liwwät“ im Kloster des Johanniterordens in Lage eingeschult worden, also im Jahre 1811. Im Alter von 10 Jahren (1817) habe sie die Andachten des „ehrwürdigen Abtes“ besucht, von dem sie schon vorher unterrichtet worden sei, nachdem man den unfähigen Lehrer Antonius entlassen habe. (9)
Von 1647 bis 1783 residierte in der Kommende Lage nur noch der jeweilige Komtur, unterstützt von einem Verwalter nebst Dienerschaft. Es lebten und arbeiteten dort keine Ordensritter mehr. Die Seelsorge übernahm von 1652 an ein Dominikanerpater aus Osnabrück und seit 1783 ein Benediktinerpater aus Iburg. Von diesem Zeitpunkt an war die Kommende Lage nur noch formell eine „Residenz des Komturs“, also „praktisch schon säkularisiert. . . . . So war die Besitzergreifung durch einen Vertreter des Kaisers Napoleon am 8. Januar 1811 nur mehr ein äußerer Vorgang, das Siegel auf ein längst bestehendes Faktum“ (Berentzen). Der letzte Komtur war Johann Baptist Reinard Freiherr von Pfürdt zu Carspach (1800-1810), der aber, wie seine Vorgänger seit 1783, nicht mehr in Lage residierte. Die Kommende wurde nach Abzug der napoleonischen Besatzung und Verwaltung von der Klosterkammer des Königreichs Hannover übernommen (1813/1815), die von dort aus die einst zur Kommende Lage gehörenden Hofstellen verwaltete (Sie konnten sich von 1834 an freikaufen.)(11)
Liwwät Böke könnte nur die armselige katholische Dorfschule in Lage besucht haben, etwa von 1811 bis 1821, zusammen mit mehr als 100 Kindern, unterrichtet von nur einem Lehrer, nicht aber eine mit mehreren theologisch ausgebildeten Lehrern (darunter Franzosen in nachnapoleonischer Zeit!?) ausgestattete anspruchsvolle Klosterschule.
Eine „Dom Schule bi Osnabrück“ (LK: „cathedral school at Osnabrück“) hat es nicht gegeben, erst recht keine, in der  es für „Liwwät“ möglich gewesen wäre, „Hebammendienst zu kennen lernen“(LK: „to learn midwife service“) (9).(12) Es gab keinen entsprechenden 2- bis 3jährigen Lehrgang (1826-1828), zu dem nach Aussage von Luke Knapke 24 Seiten mit ca. 120 „superb technical illustrations“, von „Liwwät“ angefertigt, vorliegen („Course of Study at the Cathedral School, Osnabrück“, 194). Eine relativ umfassende Ausbildung hat es in der von „Liwwät“ berichteten Form nicht gegeben.

Liwwät Böke hat diesen Text nicht geschrieben. Die genannten Schulen hat es nicht gegeben, und diese Mischung aus gutem und mangelhaftem Deutsch verweist auf ein Mixtum compositum aus Abgeschriebenem und Eigenproduktion, angefertigt von einer „Liwwät“, die der deutschen Sprache nicht mächtig war. Es handelt sich um eine Fälschung mit eingestreuten Plagiaten.


Weiter: „Map 1 – Germany; Map 4 – Ohio”; „Our Passage to America“ (39-47); “Baltimore – Those who were Indentured” (51)


[9] Bernhard Böke könnte im Mai oder Juni 1833 in Baltimore eingetroffen sein. Die „Quarterly Abstracts of Passenger Lists of Vessels Arriving at Baltimore, MD“ (National Archives Microfilm Publications, Washington D. C., M 953, Roll 1), d. h. die Vierteljahresberichte der Hafenbehörden von Baltimore an die Bundesbehörden in Washington D. C., enthalten in der Registratur der Passagiere im zweiten Quartal den Namen „J. B. Boke“, 32 Jahre alt, männlich und als „farmer“ aus Germany registriert. Johann Bernhard Böke ist laut Vincent Boeke am 25. Oktober 1800 in Neuenkirchen geboren (Vgl. Anm. 28, Seite 351.). Er war also im Frühjahr 1833 noch 32 Jahre alt. In dieser Registratur sind wenige Zeilen weiter unten die männlichen Passagiere „J. Knapke“ (19) und „H. H. Knapke“ (24) eingetragen.
Eine „geeignete“ Margaretha Maria Elisabeth Knapke bzw. Böke (Vgl. Anm. 28, Seite 352.) habe ich in den (lückenhaften) Passagierlisten und in den Quarterly Abstracts von Baltimore (1833-1837) nicht gefunden. Die Passagierliste der „Gustav“, Bremerhaven-Baltimore, angekommen am 19. Oktober 1836, enthält den Namen einer „Marg. Knapke“, 28 Jahre alt, aus Neuenkirchen, in Begleitung eines „Bernh. Knapke“, 36 Jahre alt (also um 1800 geboren), ebenfalls aus Neuenkirchen (National Archives Microfilm Publications, Washington, D.C., M 255, Roll 1). Margaretha Maria Elisabeth Knapke ist laut Vincent Boeke am 25. Januar 1807 geboren. Im Sommer 1836 war sie gut 29 Jahre und 6 Monate alt. Es dürfte sich bei „Marg. Knapke“ nicht um Liwwät Knapke gehandelt haben, auch nicht um ihren Bruder Bernhard, sofern dieser 1813 geboren ist (7).
In seiner Family History von 1979 (Vgl. Anm. 28.) läßt Vincent Böke „Natz“ und „Liwwät“ 1837 noch gemeinsam in die USA reisen.
Im Oktober 1844 hatte das Amt Damme die Bauernvögte damit beauftragt, die seit Anfang des Jahres 1830 Ausgewanderten durch Befragung zu ermitteln, auch „das Jahr der Auswanderung, soweit tunlich“. Die „Herren Pfarrer“ wurden „ersucht, die Schullehrer zu veranlassen, dass sie hierin den Bauernvögten möglichst willfährig sind“. In der (Kirchen-) Gemeinde Neuenkirchen erinnerte man sich in Bezug auf die Bauerschaft Bieste, in der „Natz“ und „Liwwät“ gelebt haben, nur an „Bernd Böke und dessen Halbschwester Marianne Lonnemann, 1834“ und an die „Familie Witwe Knabke mit 4 Kindern, 1836“. In Bezug auf die Bauerschaft Nellinghof erinnerte man sich an den „Kötter Heinrich Knabke mit Frau und 2 Kindern, 1834“, an „Friedrich Knabke, 1836“, und an „Bernhard Knabke, 1837“, und in Bezug auf die Bauerschaft Neuenkirchen an „Josef Knabke, 1836“, an „Anton Knabke, 1837" und an „Franz und Bernhard Knabke, 1838“ (Johannes Ostendorf: Zur Geschichte der Auswanderung aus dem alten Amt Damme (Oldb.), insbesondere nach Nordamerika, in den Jahren 1830-1880. In: Oldenburger Jahrbuch 46/47 (1942-43), 252-253, 287-290, 294). Im Internet unter: www.honkomp.de/damme-Auswanderung

[10] Staatsarchiv Osnabrück: Rep 336, Nr. 687

[11] Rudolf vom Bruch: Die Rittersitze des Fürstentums Osnabrück. Osnabrück: H. Th. Werner 2004, 292-301. Josef Dolle (Hg.): Niedersächsisches Klosterbuch. Teil II. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2012, 895-901. Diese Seiten sind zugänglich: http://kkg-lagerieste.de: Das Niedersächsische Klosterbuch. Bernhard Berentzen: Das Kreuz zu Lage. Geschichte und Zeitgeschichte eines Kreuzes. Osnabrück: Fromm 1983, 39-47. Bernd Holtmann: Der Malteserorden im Bistum Osnabrück: Verlag Kirchbote 1980.

[12] Mitteilung der Bistumsverwaltung Osnabrück vom 28. September 2004 (Martin Brune).


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Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA - DAUSA * Prof.(pens.) Dr. Antonius Holtmann Brüderstraße 21 a -26188 Edewecht - Friedrichsfehn *Kontakt: antonius.holtmann@ewetel.net