Antonius Holtmann:

Kein Meisterstück oder: Wie "Liwwät Böke" mit fremden Federn geschmückt wurde ....



„Pictures from my Childhood at Home
in Nellinghof and Neuenkirchen“ (167-183) und 
„Der Anfang der Welt

Die Vorlagen zu diesen „Belder van mein Kinnertied bi Hüüs in Nellinghof un Neuenkirchen“ sind enthalten in zwei Aufsätzen von Bernhard Winter (1871-1964): „Unsere alte Volkstracht“ und „Der Schmuck des Hauses“(6). Bernhard Winter war 11 Jahre alt, als Liwwät Böke (1807-1882) starb. Bernhard Winter kann also nicht von Liwwät Böke, Liwwät Böke nicht von Bernhard Winter abgezeichnet haben.
Nicht auch „Liwwät Böke“, sondern allein Bernhard Winter hat einige Abbildungen aus dem Sachsenspiegel (1336) abgezeichnet und dies vermerkt. Nur eine von 25 bebilderten Seiten in Bernhard Winters Aufsatz bezieht sich auf dieses Rechtsbuch. Darüber hinaus wären, sollten sie beide unabhängig voneinander aus dem Sachsenspiegel abgezeichnet haben, nicht nahezu identische, aber von der Vorlage im Sachsenspiegel abweichende Bilder entstanden. Bernhard Winter hat sich Freiheiten erlaubt, an denen sich die fiktive „Liwwät Böke“ (im Folgenden in Anführungsstrichen) orientiert hat. Die meisten Zeichnungen, die „Liwwät“ ihre eigenen nennt, gibt es nur bei Bernhard Winter, oder deutlicher gesagt: Die meisten dieser Zeichnungen entsprechen nur denen von Bernhard Winter. Es gibt für diese keine dritte, evtl. von beiden benutzte Vorlage. Nicht Liwwät Böke, sondern eine andere Person muss sie von Bernhard Winter abgezeichnet und Liwwät Böke zugeschrieben haben. Noch einmal: Die diesbezüglichen Bilder im Liwwät Böke-Buch sind von den Original-Zeichnungen Bernhard Winters abgezeichnet, die erstmals im Jahre 1913, einundzwanzig Jahre nach dem Tod von Liwwät Böke, veröffentlicht wurden.       

Winter

"Liwwät"

Wer immer gefälscht haben mag: Beschriftungen Bernhard Winters sind verändert bzw. falsch verstanden worden. Bettgestelle, die Bernhard Winter als dem Sachsenspiegel (1336) entnommen gekennzeichnet hat, werden den Dörfern Bieste und Alfhausen zugeordnet, eine „Ammerländer geschnitzte Richtebank“ (Geschirrschrank), mit dem Vor- und Familiennamen des Besitzers und dem Entstehungsjahr versehen, „Gebke Renken 1691“, wird zu „1691 Sebkerenken bi Bökhüis iähr Richtebank“ (Luke Knapke, LK: „1691 at the Boeke house their sideboard“).

Winter
"Liwwät"



Aus der „älteren Form“ der „Ammerländer Stühle“ macht „Liwwät“ einen „aollen Stohl“ (LK: „oldster`s chair“), aus der „jüngeren Form“ einen „jünger Stohl 1709 aollen Böke Famielien möbel“ (LK: „youngster`s chair 1709 old Böke family furniture“), aus dem Ammerländer „Lehnstuhl Mitte 19. Jahrhundert“ einen „Lehnen Stohl van Bieste“ (LK: „arm chair from Bieste“). Der Ammerländer „Arbeitsstuhl“ mutiert zum „Buer Stohl“ (LK: „farmer’s chair“) inklusive des daneben gezeichneten Gegenstandes (Lampe?).

Winter
"Liwwät"

Eine „Mütze aus Pferdehaaren, Stroh und Glasperlen“ (Winter) wird bei „Liwwät“zu einem „Strauhoot för Piärde“ (LK: „straw hat for horses“) (Ein solcher Fehler kann der wahren Liwwät Böke nicht unterlaufen sein, nämlich den Oldenburger Pferden Strohhüte aufgesetzt zu haben.).

Winter
"Liwwät"

Die „Wardenburger Band Mütze“ wird reduziert auf eine „Band Müsse“ (LK: „ribbon cap“),


Winter
"Liwwät"



die „Linnen Mutz aus Moorriem“ (bei Elsfleht in der Wesermarsch) auf eine „Linen Mutse morein“ (LK: „linen cap moorien“).

Winter
"Liwwät"



Das „Männerhemd 1850“ gerät zum „Roch“ (LK: „coat“),

Winter
"Liwwät"



und der „Hogen Hot (Stintschepel) Cylinder 1850“ ist nur noch ein „Stintshepel“ (LK: „Stintshepel“), und der „Sted. (inger) Dretimpen Hot“ wird umgemünzt in einen „Damme Hot“ (LK: „Damme hat“). 

Winter
"Liwwät"

Aber „Liwwät“ verrät sich dann doch auch noch darüber hinaus als Plagiatorin, weil sie Bernhard Winters Reihenfolge der Abbildungen beibehält: z. B. bei Hemd und Weste, Rock und Hose, bei  Kopfbedeckungen -  und  Schuhen

Winter
"Liwwät"



-   und bei der Arbeit.

Winter
"Liwwät"

Aus Bernhard Winters Vermerk: „Hausrat aus dem Oldbg. Sachsenspiegel aufgezeichnet durch den Mönch Hinrich Gloyesten, einem geb. Ammerländer“ wird: „Hüisraad ut den Oldenburger-Munsterland  -  de Böke 1667 bei Bieste-Herrenberg“. Das erste Wort hat Luke Knapke falsch übersetzt: „house cart from the Oldenburger Munsterland  -  the Boekes 1667 at Bieste-Herrenberg“. Aus Hüisraad wird ein Wagen (cart), wohl weil Bernhard Winter diesen Hinweis mit einer Kopie aus dem Sachsenspiegel geschmückt hat, mit einem Ackerwagen. Und gerade dieser Wagen beweist, dass eine fiktive „Liwwät Böke“ nicht aus dem Sachsenspiegel, sondern von Bernhard Winter abgezeichnet hat, den die reale Liwwät Böke nicht gekannt haben kann. Bernhard Winter hat den Peitschenriemen verkürzt und dessen Krümmung nach innen verlegt. Er hat den Händen die Finger genommen, die Münzen nicht berücksichtigt, den Pferdeschweif geschwärzt, die Pferdeohren und den Vorderlauf des hinteren Pferdes und auch Radspeichen verändert und das Wagengestänge gestutzt. All dies hat „Liwwät“ übernommen. Nur die Bank hat sie verändert. „1336“ hat Bernhard Winter hinein geschrieben. „Liwwät“ schreibt „1515“ hinein und „Böke bi Bieste“ (LK: „Boeke at 1515 Bieste“). Um Platz dafür zu schaffen, wird sie erhöht.(7)

Sachsenspiegel (1336)
Bernhard Winter (1913)
"Liwwät" (1825 - 1832)

Diese Zeichnungen Bernhard Winters sind in eine Kladde (252 Seiten) eingefügt, die 29 Seiten handschriftliche lateinische Rechtsbestimmungen enthält über staatliche Gewalt und Freigelassene, über Eheverträge, Adoption und die Rechte des Hausvaters, aber vor allem den handschriftlichen „Anfang der Welt“ “ in (3440) Versen, in perfektem Hochdeutsch. „All de Beller in dut Lütk Bök hewt ik moalt“, steht auf der letzten Seite, unterschrieben mit „Liwwät Böke“. Und drei Seiten davor in ungelenkem Plattdeutsch: „Dusse Riemsel hett mi een und twing Jaähr nommen to schriwwen. . . . et was Spaß för me un later för Nätz un usse Blagen“. Und weiter in ungelenkem Hochdeutsch: „Dieses historisches Büchlein sind nur die Versen für Kinder.  -  Das Latines ist von den Cordt Böke in der Böke Heimat daalgefanden vom Jahre 1665.“
Luke Knapke hat „dusse Riemsel“ nicht ins Buch aufgenommen, aber dort aufgelistet (195) mit dem Hinweis, „Liwwät“ habe diese „Weltgeschichte“ („The Beginning of the World“) selbst in Hochdeutsch geschrieben. Er datiert sie auf 1825-1832.

Die Zeichnungen stammen nicht von Liwwät Böke, also stammen auch die 3440 Verse in korrektem Hochdeutsch nicht von ihr. Die Verse sind von einer anderen Person aus einer Buchveröffentlichung abgeschrieben worden, ein wenig bereichert um unzulängliches Deutsch, z. B. in Anmerkung 9, um den Begriff „homme d’affair“ zu erläutern: „In Lage Schule habe ich gelahrt, man spricht: Omm daffähr“. Der dazugehörige Text lautet: „Auf seinem Söller Joseff stand, / Und überschaute Stadt und Land. / Da zogen just die Brüder sein, / Ins Thor auf ihren Esel ein. / Schnell rief er seinen homm d’affäir, / Sprach: Sorgt für elf Gedecke mehr / Und ladet jene allzumahl / Auf heut zu meinem Mittagsmahl“. Wer solche Verse schmieden kann, kommentiert sie nicht in unzulänglichem Deutsch.
Bei den Zeichnungen und beim Text handelt es sich um Fälschungen und um Plagiate.(8)

„Weaving and Spinning 1830. Cottage Industry in Neuenkirchen.“ Zeichnung (58)

Die Zeichnung ist mit „Liwwät Böke“ signiert und mit der Jahreszahl „1830“ versehen. Die Zeichnung entspricht, abgesehen von leichten Veränderungen - ein Kreuz ist hinzugefügt, ein Blumentopf entfernt - Bernhard Winters Gemälde „Ehemalige Webstube in Nordermoor“, das auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 gezeigt worden ist. Im oben genannten Aufsatz des Malers (Anm. 5) ist es schwarz-weiß reproduziert.
 
 
Aus der Großen Berliner Kunstausstellung 1898: Altoldenburgische Weberstube. Nach dem Gemälde von Bernhard Winter
Weaving and spinning 1830. Cottage industry in Neuenkirchen

27 Jahre alt war Bernhard Winter 1898, und Liwwät Böke war schon 16 Jahre tot: Bernhard Winter kann sein Gemälde nicht von Liwwät Böke übernommen, „Liwwät Böke“ ihrer Zeichnung nicht das Gemälde von Bernhard Winter zugrunde gelegt haben. „Liwwäts“ Bild kann erst nach 1898 , vermutlich erst nach 1913 angefertigt worden sein, zusammen mit den „Belder van mein Kinnertied“. Es handelt sich um eine Fälschung und um ein Plagiat.


Winter
"Liwwät" (Buch)

"Liwwät" (Manuskript)
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Weiter: „My Early Life“ (53-60)


[6] Bernhard Winter: Unsere Volkstracht / Der Schmuck des Hauses. In: Oldenburgischer Landeslehrerverein (Hg.): Heimatkunde der Herzogtums Oldenburg. Band I. Bremen: Schünemann 1913, 333-365

[7] Mamoun Fansa (Hg.): Aus dem Leben gegriffen: Ein Rechtsbuch spiegelt seine Zeit. Oldenburg: Isensee 1995, 156.  -  Egbert Koolman u. a. (Hg.): Bilderhandschriften des Sachsenspiegels. Oldenburg: Isensee 1995, 432 f.

[8] Vgl. in der Bibel Genesis 43, 15-34.  -  Ein weiteres Beispiel aus „Der Anfang der Welt“: „Wo stammen wol Virgil, Homer, / Wo Wieland, Voß und Klopstock her? / Wo Sokrates und Mendelssohn? / Weß ahnenreichen Stammes Sohn / War Galiläi oder Kant? / Wem ist der Stammbaum wohlbekannt, / Aus dem der wackre Franklin sproß? / Wer ist wie Bonaparte groß / (So lang er König nicht will sein) / Und dennoch, von Geburt, wie klein.“
Bei diesem korrekt in deutscher Schreibschrift abgeschriebenen Zitat und bei dem gesamten Text (246 Seiten) handelt es sich um das „Bilderbüchlein“ von Joachim Heinrich Campe: Geschichtliches Bilderbüchlein oder die älteste Weltgeschichte in Bildern und Versen. Mit siebzehn Kupfern. Braunschweig: Schulbuchhandlung 1830 (Sämmtliche Kinder- und Jugendschriften von Joachim Heinrich Campe. Fünfzehntes Bändchen. Neue Gesammtausgabe der letzten Hand.) (192 Seiten). Siehe das Original: http://books.google.de/advanced_book_search?hl=de. Eingabe in die Suchmaske: „Geschichtliches Bilderbüchlein“ (Titel) und „Joachim Heinrich Campe“ (Autor).
Der Text und die 36 Anmerkungen wurden vollständig übernommen, letztere aber zielgerichtet „überarbeitet“. In Anm. 3 z. B. fehlt der Satz: „S. meine Sammlung von Reisebeschreibungen. Thl. V“. In Anm. 6 wurde Verräterisches übersehen; man hat Campes Text unverändert beibehalten:  „Statt des zu dieser Stelle bestimmten Kupfers . . . glaubte ich . . . besser zu thun, die hiebei befindliche Abbildung beizufügen.  . . . Diese Abbildung ist nach dem trefflichen Stücke von Liewens . . . gemacht“, also nach einem Kupferstich des niederländischen Malers Jan Lievens (1607-1674), dessen Stich keineswegs in „Liwwäts“ Abschrift „befindlich“ ist. „Hiebei“ befinden sich nur die von der 1882 verstorbenen „Liwwät“ aus Bernhard Winters Veröffentlichung (1913) abgekupferten Zeichnungen. In Anm. 5 z. B. wurde in Bezug auf die „Babilonische Sprachverwirrung“ (Genesis 11, 1-9) ergänzend hinzugefügt: „ . . . so möchte man in Versuchung gerathen, die Plattdeutschen für die unmittelbaren und echtesten Nachkommen jener Thurmbauer zu halten, weil der Kitzel, die Sprache zu verwirren, bei keiner anderen Völkerschaft sich bis auf diesen Tag so ungeschwächt erhalten hat, als bei ihnen“. Auch dieser Satz in perfektem Hochdeutsch dürfte nicht von „Liwwät“ bzw. von der fälschenden Person stammen. In den Anmerkungen 15, 33, 35 und 36 werden z. B. Campes Wörter „deutsch“ und „niederdeutsch“ durch „plattdeutsch“ ersetzt. In den Anmerkungen 9, 20 und 25 verweist man auf den Unterricht in der „Lage Schule“ (Kommende Lage bei Rieste); nichts davon steht bei Campe. Bei den 26 eingeschobenen lateinisch geschriebenen Seiten handelt es sich um einen Kommentar zu: Imperatoris Flavii Justiniani (482-565), Semper Augusti, Institutionum Juris Civilis, Liber I, Tituli IX (De Patria Potestate), X (De Nuptiis), XI (De Adoptionibus), XII (Quibus Modis Jus Patriae Potestatis Solvitur) und XIII (De Tutelis).
Liwwät Böke könnte Campes "Bilderbüchlein" im Reisegepäck mit in die USA genommen haben. Aber sie könnte es nicht in der Sütterlin-Schrift des 20. Jahrhunderts geschrieben haben. (Siehe: "Liwwäts Handschrift: last but not least".)

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Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA - DAUSA * Prof.(pens.) Dr. Antonius Holtmann Brüderstraße 21 a -26188 Edewecht - Friedrichsfehn *Kontakt: antonius.holtmann@ewetel.net