Heuerleute und abgehende Bauernkinder
 

Unsicherer und beschwerlicher war dagegen das Leben der Heuerleute. Seit 1618 durften Colonate nicht geteilt werden. So blieb die Zahl der Großbauern weitgehend konstant. Die landlose Schicht machte um 1600 nur ein Drittel der Haushalte von Groß- und Kleinbauern aus. Nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) nahm sie beständig zu: 1806 erreichte sie im Amt Vörden 68 % der Bevölkerung (1812 waren es im Kirchspiel Belm 69 %, neben 12 % Kleinbauern mit durchschnittlich 3 ha und 17 % Großbauern mit durchschnittlich 27,5 ha Land); die Bevölkerungszahl stieg von 9324 im Jahre 1813 auf 12731 im Jahre 1833. Das Verbot der Erbteilung, das im Interesse der Grundherren und des Staates die Leistungsfähigkeit der Colonate erhalten sollte, drängte die nicht erbberechtigten und nicht in Bauernstellen einheiratenden Kinder, sofern sie nicht unverheiratet als "Möhne" oder "Öhm" auf der Hofstelle blieben, in die Schicht der Heuerleute hinab ("Abstiegsmobilität") und machte die Bauern zur Minderheit. (Bölsker-Schlicht 1990, 226, 230f.; Schlumbohm 1994, 46-59)
Grundherren und eigenbehörige Bauern haben die Landlosen nicht abschieben können, ihnen kaum Land abgetreten und keine eigenständigen Rechte der Nutzung des Gemeindelandes (Marken) zugesprochen. Die Colonen stellten sie als Gesinde ein, das eine eigene Unterkunft brauchte, um heiraten zu können. Sie verpachteten ihnen, damit sie heiraten konnten, Nebengebäude, später Heuerhäuser, die sich häufig 2 Familien zu teilen hatten, dazu ein wenig Land, im Durchschnitt 1 ha, wenn's hoch kam, bis zu 2 ha. Die Pacht mußte z.T. durch Arbeit abgetragen werden, deren Umfang und Zeitpunkt der Colon beliebig festlegen durfte. Das bedeutete für die Heuerleute, 3-6 Monate nur für den Bauern zu arbeiten. Der half seinen "Leuten" ein wenig mit Knecht und Pferd und Geräten aus, wenn er sie entbehren konnte, und er ließ zumeist die Kühe (1-2) und Schafe (5-6) seiner Heuerleute seinen Anteil an der Mark mitbenutzen. Handwerkliche Tätigkeit brachte wenigen einigen Wohlstand, den meisten aber nur das nötige Geld, um mit der Pacht nicht zu sehr in Verzug zu geraten. Das hätte vorzeitige Kündigung (der zumeist 4 Jahre gültigen mündlichen Vereinbarungen) von heute auf morgen bedeuten können, schlimmstenfalls also Obdachlosigkeit und Unterbringung im Armenhaus. Leineweberei bewahrte zumeist davor und der Gang der Männer nach Holland in den Torfstich und ins Heu, zwischen heimischer Feldbestellung und Ernte. (Bölsker-Schlicht 1990, 234ff.; Schlumbohm 544ff.)
Dieser "Verbund bäuerlicher und landloser Haushalte" (Schlumbohm) war keine harmonische, von verwandtschaftlichen Beziehungen geprägte Solidargemeinschaft. Sie war ein leidlich funktionierendes ungleichgewichtiges Gesellschaftssystem, in dem schon im 18. Jahrhundert mit der Zunahme der Heuerleute die Interessengegensätze zwischen ihnen und den Bauern die zwischen Bauern und Grundherren zu überlagern begannen. Die Heuerleute auf den  Höfen der Colonen waren in der Regel nicht die eigenen "weichenden" Geschwister der Hoferben. (Schon Ende des 18. Jahrhunderts waren nur noch 20-25 % der Heuerleute Bauernkinder: die Schicht der Heuerleute rekrutierte sich überwiegend aus sich selbst.) Man vermied den alltäglichen Umgang miteinander, auch wenn zunächst familiäre Rituale erhalten blieben. Der Abstieg war zu direkt, das soziale Gefälle zu groß, als daß man es Tag für Tag hätte vor Augen haben und erfahren wollen. Colonen und Heuerleute waren sich also fremd genug, um anordnen und dienen zu können. (Schlumbohm 539, 582ff.)
Ein Bericht des Amtes Vörden, "die Verhältnisse der Heuerleute betreffend", verwies 1806 auf gesicherte Wohnungen für Heuerleute, auf vereinbarte Beanspruchung und Bezahlung, auf gewährte Nutzung der Mark und Entschädigung nach der Markenteilung. Aber das seien "Ausnahmen ... von einigen Colonen", während andere sie "bis aufs Blut aussaugen". Nahezu alles müßten die Heuerleute "anheuern": sie "kommen in die fürchterlichste Dependenz von ihren Wirthen", so daß sie befürchten müssen, "bei der Fülle der Menschen - verhältnismäßig gegen die Wohnungen - alle Augenblick oder wenigstens bey der ersten Gelegenheit verstoßen oder mit Frau und Kinder auf die offene Straße gesetzt zu werden". Der "Heuermann" lebe vom Acker, vom Tagelohn und vom "Hollandgehen, während welcher Zeit die Frau mit den Kindern ein Stück Löwend-Linnen bearbeitet und verfertigt". Er müsse "manche Seite Speck, manches Schwarzbrod und Buttertopf mit dahin nehmen, um so viel Geld zurückbringen zu können, indem es in Holland so theuer ist für baares Geld zu zehren". Die Familien seien verarmt, nicht kreditwürdig, "fugae suspectus" (lat. = fluchtverdächtig). Und doch habe der Staat "Vorteile von dieser arbeitsamen Classe". Sie könne "Heideland cultivieren" und "durch ihre temporäre Emigration ein artiges Capital baaren Geldes ins Land holen", wodurch "das Fürstenthum erst zahlungsfähig" werde. Zudem mache "eine beträchtliche Menge Heuerleute und Kinder bei anzulegenden Manufacturen den Taglohn wohlfeil". (StOs: Rep 321, 533, 91-96)
Am 28. Dezember 1835 schrieben 7 Heuerleute dem "Königlich Großbrittannisch Hannöverschem Amt Fürstenau", warum sie ihm "zur Last fallen müssen: ... daß wir nicht im Stande sind hier als rechtliche Unterthanen, wegen fehlenden Nahrungszweigen, leben zu können." Da seien die Folgen der Aufteilung des Gemeindelandes unter die Bauern (Markenteilungen seit der Jahrhundertwende) und die geringen Löhne in Holland, das hohe Schulgeld und die Arbeit für den Bauern, die sofort zu erledigen sei, "ohne baare Bezahlung, nur für die Kost", während "die Eigenthümer ... bedeutendes Geld fordern, ... unzertheilt. ... Der zur Ruin geführte Heuermann fühlt seinen schrecknisvollen Untergang und ihn deucht hier nicht länger leben zu können und in dieser Verwirrung faßt er den Auswanderungsentwurf".
Das Amt Fürstenau reagierte postwendend am 6. Januar 1836: Markenteilung, Arbeitsforderungen und Mietgeld seien rechtens, die Lehrer leistungsfähiger als früher und der "geringere Arbeitslohn in Holland entweder Folge des Geldmangels in Holland oder der Einwilligung der Arbeiter selbst, indem diese für einen geringern Lohn die Arbeiten übernehmen". Es habe "bei angestrengter Thätigkeit, Sparsamkeit und Nüchternheit noch nie jemand darben müssen: ... Wir können den Supplicanten nur rathen, ... durch Vermeidung vielen Verbrauchs von ausländischem Kaffee, durch Tragung von Kleidungsstücken lediglich von selbstgemachtem Zeuge ... ihre Ausgaben zu beschränken ... . In keinem Lande der Welt (werde) ein Zustand erreichbar sein, ... wo jedem Heuermann die Mittel ... zu Gebote stehen, gleich einem wohlhabenden Grundbesitzer sich kleiden, kostbare Pfeifen und dergleichen sich kaufen, allen Lustbarkeiten beiwohnen, und ohne selbst gehörig Hand anzulegen durchkommen zu können." Das Amt zog Bilanz: "Ob nun jemand lieber jene Eigenschaften sich zur Pflicht machen oder lieber auswandern will, das müssen wir lediglich der Wahl eines jeden überlassen." (StOs: Rep 335, 4247 II, 237-241)
Die "Heuerleute Hellmann u. Cons. aus der Bauernschaft Hallenstedt im Kirchspiel Schwagstorf" wurden zurechtgewiesen, obgleich man zwei Jahre zuvor unter sich in derselben Amtsstube schon ganz anders geredet hatte: manchen Colonen sei der Heuermann "ein Mittelding zwischen Eigenbehörigen und Sklaven"; diese "gedrückte Menschenklasse" dürfe nicht weiter "tyrannisiert" werden, wenn man der zunehmenden Auswanderung beikommen wolle. So schrieb man am 18. März 1834 aus Fürstenau nach Os-nabrück. (StOs: Rep 335, 4747 I, 45-49) Am 24. März 1834 nannte das Amt Vörden als "Hauptmotive, welche ... zum Auswandern veranlaßten", die geringe "Hoffnung, ... ein genügendes Auskommen zu finden", und "bey den Heuerleuten vorzüglich (den) harten Druck, welchen sie durch die übertriebenen Forderungen so wohl hinsichtlich der zu zahlenden Miethpreise, als der unmäßigen Natural-Dienstleistungen von ihren Colonen zu erfahren gehabt haben" (StOs: Rep 335, 4247 I, 59-62). Einen Tag später listete das Amt Bersenbrück seine "Hauptmotive" auf: es seien "der nachtheilige Einfluß, den die geschehenen Markentheilungen für die Heuerleute ... gehabt haben, auch der in den letzten Jahren so sehr verringerte Erwerb in Holland", der "auch die Subsistenzmittel der nicht angesehenen geringeren Einwohner aussterben" lasse, "desgleichen die niedrigen Garn-Preise, ... was ohnstreitig den wohlfeilen Preisen der Baumwollfabrikate, mit denen die Leinenpreise durchaus nicht mit halten können, zuzuschreiben" sei. "Der Druck der hiesigen Heuerleute liegt hauptsächlich in den ungemessen Diensten, die sie den Bauern leisten müssen, wogegen die von letzteren zu präsentierende Hülfe gar nicht in Anschlag zu bringen ist. ... Kurz man kann wohl sagen: daß auch der fleißigste Heuermann bey der jetzigen Lage der Dinge sich nicht zu halten im Stande ist". (StOs: Rep 335, 4247 I, 56-58). Der "Magistrat zu Vörden" ließ die "Landdrostei zu Osnabrück" am 4. April 1834 wissen, daß, "wenn hier nur ein besser Nahrungszweig wär den würden die Leute auch gewiß so nicht weg gehen, aber wie das anzufangen ist wissen wier fast nicht" (StOs: Rep 335, 4247 I, 86-88).
Der Heuermann Johann Hennerich Buhr aus Belm wußte, was er zu tun hatte. Er schrieb seinem Amtmann Stüffen in Osnabrück am 30. Juli 1833 aus dem oldenburgischen Brake "die ganze Beschaffenheit der sache wie die Bauern es mit die Heuerleute machen: ... die bauern fressen die heuerleute auf". Er ging an Bord eines Seglers, weil auch er "geschwungen (sei) sich aus Deutschland zu verfügen in anderen Ländern" - nach Amerika (StOs: Rep 350 Osn, 209, 348).
Vor allem die Heuerleute traf das "gering" gewordene Einkommen aus der Hollandgängerei: 16 Taler Durchschnittsverdienst notierte das Amt Vörden 1831 (in "gewöhnlichen Jahren 24-32 Taler"). 1833 wurde nur angemerkt: "sehr gering, geringer noch wie in einem der letzten Jahre". Bevölkerungswachstum und die napoleonische Kontinentalsperre hatten den Bedarf an "Gastarbeitern" sinken lassen, und auch das große Angebot aus Deutschland drückte die Löhne. (Bölsker-Schlicht 1987, 151-157)
Vor allem die Heuerleute traf der Verfall der Leinenpreise: Von 1815 bis 1829 gingen sie um die Hälfte zurück, während die Produktion von 1815 bis 1829 nur um ein Drittel zurückging. Durch Mehrarbeit versuchten viele Heuerleute die Verluste auszugleichen. Brachten 100 Meter Leinen 1815 fast 29 Taler ein, so waren es 1829 knapp 14,50 Taler. Der Preis lag 1834 bei gut 17 Talern. (Knapp 22 Taler wurden noch einmal 1838 erzielt, danach zwei Jahrzehnte lang 15-20 Taler.) Napoleons Kriege hatten England die Osnabrücker Märkte zugespielt, und britische maschinell gefertigte Baumwolle und Textilien drängten auf die Märkte des Kontinents. (Schlumbohm 75-90, 634ff.)
Allein die Heuerleute traf die Markenteilung: Wer nicht einem großzügigen Colonen diente und zuarbeitete, verlor Weideland für seine 1-2 Kühe, 5-6 Schafe, für seine Ziege, Holz und Torf für das offene Herdfeuer und Gras-Plaggen als Dünger für den Garten und für das evtl. gepachtete kleine Stück Ackerland. Rücksichtslose Nutzung hatte die Marken ruiniert. (Bölsker-Schlicht 1990, 234; Schlumbohm 75).