„Die Deportation als Strafmittel in alter und neuer Zeit und die Verbrechercolonien der Engländer und Franzosen“ wurden um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Deutschland „in ihrer geschichtlichen Entwicklung und criminalpolitischen Bedeutung“ anspruchsvoll diskutiert (Holtzendorff 1859). Wissenschaftler und Politiker dachten schon länger daran, sich durch Übersiedlung ins Ausland verarmter Mitbürger und Obdachloser, Kriminalisierter und Krimineller, aber auch „politischer Verbrecher“ zu entledigen. Dies fiel um so leichter, als diese Absichten den Zuschreibungen durch die „anständige“ bäuerliche und bürgerliche Gesellschaft mehr oder weniger gerecht wurden (Moltmann 148f.).
Am 16. März 1849 hat die „Deutsche konstituierende Nationalversammlung zu Frankfurt am Main“ das „Gesetz, den Schutz und die Fürsorge des Reichs für deutsche Auswanderung“ diskutiert und (wirkungslos) mehrheitlich verabschiedet (Wigard VIII, 5709-5730). Es waren die Ausführungsbestimmungen zum (wirkungslosen) Grundrecht der „Auswanderungsfreiheit“, das am 6. Dezember 1848 beschlossen worden war (Wigard V, 3870). Der Freiburger konservative Prof. Franz-Josef von Buß (1803-1878), der den Wahlkreis 14 (Westfalen) vertrat, stand seinen Kollegen nicht nach, formulierte in seiner Rede aber sozialpolitisch korrekter: „Das ist der beste Weg, um Frieden unserem Vaterlande zu bringen, wenn wir Denjenigen, welche durch Armuth zur Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung verleitet werden, eine Unterkunft gewähren, welche der Nation zudem noch viele Früchte bringen wird“. Die „Auswanderungsfrage (sei) in ihrer praktischen Auffassung ... eine Frage der öffentlichen Armensorge“. Kirchen und Gemeinden, private Vereine und staatliche Einrichtungen sollten, von letzteren organisiert, einen Fond gründen, zur Finanzierung von Beihilfen zur Auswanderung, von der Abreise bis zur Ansiedlung und Arbeitsbeschaffung, „um unsere leidenden Brüder zu übersiedeln“. Der linksliberale („Linke im Frack“) Abgeordnete Friedrich Schulz (1813-1867) aus Weilburg lobte „einzelne Gemeinden“. Sie hätten „bereits den richtigen Weg eingeschlagen, indem sie angefangen, ihre Armen auf Gemeindekosten in die neue Welt überzusiedeln“. So könne „am großen Ocean ein mächtiges herrliches Neudeutschland erblühen, welches die natürliche Freundschaft der Vereinigten Staaten mit uns noch bedeutend verstärkt“.
Was da im 19. Jahrhundert in Deutschland selbst von Wissenschaftlern gedacht, pathetisch formuliert und in manchen Gemeinden und Ämtern, Verwaltungsbezirken und Regierungen pragmatisch getan wurde, erschien vielen nicht ungewöhnlich, gerade angesichts der humanitären, pädagogischen und auch patriotischen Absichten, die sich mit „Übersiedelungen“ verbinden ließen.
Die Vereinigten Staaten boten sich an. Die Kontrollen waren großzügig, Täuschungen der US-Behörden durch saubere Pässe und nicht ganz so saubere neue Kleidung leicht zu bewerkstelligen und politische Oppositionelle durften in den amerikanischen Freistaaten mit freundlicher Aufnahme rechnen. Was in der Alten Welt schlimmstenfalls ein (politisches) Verbrechen war, wurde in der Neuen Welt bestenfalls als Heldentat wahrgenommen. Soviel war gewiss: Die USA gewährten politisches Asyl; politische Straftäter wurden in der Regel nicht ausgeliefert. (Klemke 175-190)
1752-1754 hatte der Hamburger Senat „Transportationen“ praktiziert. 5 Schiffe verließen den Hafen mit Fracht und Auswanderern an Bord, darunter 110 weibliche und männliche Insassen des „Werk-, Zucht- und Armenhauses“ und des städtischen Gefängnisses (Spinnhaus), von denen vermutlich 46 in Rotterdam entkommen konnten. Die Stadt bezahlte die Überfahrt und lieferte Kleidung und Taschengeld, Bibel und Gesangbuch, und auf Rache mussten sie per Eid verzichten und damit auch zusichern, nie mehr nach Hamburg zurück zu kehren. Sie gingen unter diesen Bedingungen „freiwillig“. Diebstahl und Unzucht, Kindestötung, Körperverletzung und versuchter Mord, ob nachgewiesen oder der Taten verdächtig, hatten sie in die Haftanstalten gebracht, z.T. verurteilt zu 25 Jahren oder auf unbestimmte Zeit. (Bollmann)
„Diskret eingeschleust“ (Moltmann 170) hat man diese Delinquenten gewiss, mag nun das Interesse daran vor allem bei den Agenten, den Reedern und Kapitänen oder gar bei den britischer Behörden im Mutterland und in den Kolonien gelegen haben. Für alle Beteiligten, für Opfer und Täter, auch für den Hamburger Senat, war es ein lohnendes, wenn auch ein unterschiedlich gewichtiges Geschäft. Im Jahre 1787 ist es noch einmal belegt, für 10 Reichstaler pro Person, darunter einige „abermals eingezogene Gassenhuren“. Die Passagierliste trägt sogar Vermerke, die 4 Männer als Gefangene („convict“) und als gebrandmarkt („branded“) kennzeichnen und auf das „Spinnhouse“ in Hamburg verweisen. Das Schiff ist in Philadelphia angekommen, nun schon in den USA. Hamburgs Akten dokumentieren eine weitere „Transportation“ im Jahre 1792. (Moltmann 172f.)
Die napoleonische Herrschaft in Europa hatte den Überseehandel weitgehend zum Erliegen gebracht und damit auch die Möglichkeiten, auszuwandern und unliebsame Personen in die USA einzuschleusen, eingeschränkt. Erst mit Beginn der Masseneinwanderung im Jahre 1832 eröffneten sich neue, nun besonders günstige, weil unauffällige Chancen.
Anlass zu diesem Beginn mögen die Julirevolution in Frankreich und deren recht unwirksame Auswirkungen auf die deutschen Staaten (1830/31) gewesen sein, Missernten und die Cholera (1831/32) und auch erste gute Nachrichten aus der Neuen Welt, die nun stetig zunahmen und die schlechten überwogen. Sie stießen auf individuelle Dispositionen, die Auswanderung wagen und verzögern, aufschieben und vermeiden und ablehnen ließen. Frankreichs große Revolution (1789) und Napoleons Herrschaft (1806-1813) hatten in manchen Köpfen den Gedanken reifen lassen, dass nicht sein müsse, was immer schon so und nicht anders gewesen sei. Oldenburgs Landesrabiner hat es 1846 auf den Punkt gebracht: „In dem Maaße, in welchem die Empfänglichkeit für Recht und Gleichheit, für Wahrheit und Menschenwürde zunimmt, in welchem diese Begriffe und Ideen Gemeingut werden und in Folge der Bildung immer mehr werden müssen, und es ist daher nicht nöthig, daß das Maaß des Widerwärtigen, Unvollkommenen an sich größer werde, ..., es kömmt nur darauf an, daß es als solches erkannt werde, daß in den Menschen der Gedanke immer lebendiger werde, es sollte nicht so sein.“ Man habe „in Folge des geistigen Umschwungs eine empfindliche Haut gegen die noch immer nicht fehlenden Rippenstöße“ (Wechsler 16).
Viele fanden einen Ausweg und mochten dadurch wohl auch zuweilen der Verelendung und Kriminalisierung entgehen; sie gingen nach Amerika, herausgedrängt von heimischen Verhältnissen, wohlwollend geduldet von der Regierung. Sie wurden aber auch angezogen von verlockenden Löhnen - das Sechs- bis Zehnfache konnte verdient werden - und vom preiswertem Land – in gut 3 Tagen hatte man als Knecht einen Hektar verdient - und von industriellen Arbeitsplätzen in den Städten (Holtmann 1995; Holtmann 1999). Wer blieb, hatte nun größere Chancen auf dem heimischen Heirats- und Arbeitsmarkt. Die meisten derer, die ungescholten und unbescholten gingen, entlasteten die heimischen Konkurrenten; „dem Gemeindewohl schädliche Personen“ aber blieben den heimischen Behörden eine Last. Da lohnte es sich schon, auch für diese die Auswanderungschancen zu nutzen und dabei von Amts wegen mehr oder weniger nachdrücklich zu „helfen“.
Ulf Bollmann, Wegen „Sodomiterey“ und „incorrigiblen HuhrenLebens ...“. Die Abschiebung von unerwünschten Personen stand am Beginn der Hamburger Auswanderergeschichte. In: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 73(1998)2, S. 51-74
Ernst Brauns, Ideen über die Auswanderung nach Amerika nebst Beiträgen zur genaueren Kenntniß seiner Bewohner und seines gegenwärtigen Zustandes. Göttingen 1827 (http://books.google.de Titel oder Autor eingeben)
Richard J. Evans, Szenen aus der deutschen Unterwelt. Verbrechen und Strafe. 1800-1914, Reinbek: Rowohlt 1997
Uwe Hagen, Niedersachsen und Amerika. Aspekte ihrer Beziehungen, dargestellt anhand von Archivalien der niedersächsischen Staatsarchive aus Anlaß der 300. Jahresfeier der ersten deutschen Amerikaauswanderung (1683). O. O. u. o .J. (1983)
Anne-Katrin Henkel, „Ein besseres Loos zu erringen, als das bisherige war.“ Ursachen, Verlauf und Folgewirkungen der hannoverschen Auswanderungsbewegung im 18. und 19. Jahrhundert. Hameln: Niemeyer 1996
Antonius Holtmann (Hg.): „Ferner thue ich euch zu wissen . . .“. Die Briefe des Johann Heinrich zur Oeveste aus Amerika (1834-1876). Bremen: Temmen 1995. (www.nausa.uni-oldenburg.de/zuroev/000.htm)
Antonius Holtmann (Hg.): „Für Gans America Gehe ich nich Wieder Bei die Solldaten . . .. Briefe des Ochtruper Auswanderers Theodor Heinrich Brandes aus dem amerikanischen Bürgerkrieg 1862/63. Bremen: Temmen 1999
Franz von Holtzendorff, Die Deportation als Strafmittel in alter und neuer Zeit und die Verbrechercolonien der Engländer und Franzosen in ihrer geschichtlichen Entwicklung und criminalpolitischen Bedeutung dargestellt. Whitefish, MT: Kessinger 2009 (zuerst Leipzig: Barth 1859) (http://books.google.de: Titel oder Autor eingeben)
Stephan Huck, Verkauft und verraten? Die Braunschweiger Truppen unter General von Riedesel im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. In: Horst Rüdiger Jarck / Elke Niewöhner (Hg.): Brücken in eine neue Welt. Auswanderer aus dem ehemaligen Land Braunschweig. Wiesbaden: Harrassowitz 2000. S. 201-220
Ulrich Klemke, „Eine Anzahl überflüssiger Menschen.“ Die Exilierung politischer Straftäter nach Übersee: Vormärz und Revolution 1848/49. Frankfurt/Main: Lang 1994
Hans Mahrenholtz, Auswanderung deutscher Kolonisten über Stade nach Amerika vor 200 Jahren. In: Stader Jahrbuch 48(1958), S. 108-122
Günter Moltmann, Die Transportation von Sträflingen im Rahmen der deutschen Amerikaauswanderung des 19. Jahrhunderts. In: Ders. (Hg.): Deutsche Amerikaauswanderung im 19. Jahrhundert. Sozialgeschichtliche Beiträge. Stuttgart: Klett 1976, S. 147-196
Friedrich-Christian Schroeder, Texte zur Theorie des politischen Strafrechts: Ende des 18., Mitte des 19. Jahrhunderts. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974
Bernhard Wechsler, Die Auswanderer. Ein Vortrag, gehalten im Verein für Volksbildung zu Oldenburg am 20. December 1846, nebst einem Vorworte. Oldenburg: Stalling 1847. (www.nausa.uni-oldenburg.de/fundf.htm)
Franz Wigard (Hg.): Reden für die deutsche Nation 1848/49. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bände 5 und 8. München: Moos&Partner 1988 (zuerst Frankfurt: Sauerländer 1848/49)
Hannoversches
Magazin
- 12.
September 1832
Sonntags-Blatt
(Vechta,
Oldbg.)
- 30. Juli 1837
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Forschungsstelle Deutsche Auswanderer in den USA - DAUSA * Prof.(pens.) Dr. Antonius Holtmann Brüderstraße 21 a -26188 Edewecht - Friedrichsfehn *Kontakt: antonius.holtmann@ewetel.net |