Antonius Holtmann
Bohmte – Bremen – Public Landing.
Eine Erfolgsgeschichte aus Cincinnatis
19. Jahrhundert
als genealogische
Rekonstruktion
„Nicht was wir gelebt haben
ist das Leben,
sondern das,
was wir erinnern,
um davon zu erzählen.“
Gabriel
Marcia Marquez
Gottfried
Weber aus Barenau bei Engter im Osnabrücker Land ging im April 1834
„nach Amerika zu mit wenig Geld in der Tasche“. Eine „Kurtze
beschreibung“ seines Lebens hat er 1877 für seinen Neffen in
Deutschland in ein schmales in Leder gebundenes Heft eingetragen.

Das ist ein ganz von den
eigenen Bedeutungszuweisungen und –gewichtungen bestimmtes
selektives Daten- und Interpretationsnetz, eine rückblickende
Konstruktion der eigenen Lebensgeschichte, die aus dem Heuerhaus über
die 10jährige Wanderschaft des Bäckergesellen in Deutschland
und in den Niederlanden und über die Arbeit am Kanal in Fort
Wayne/Indiana, über die Arbeit im Steinbruch in den
florierenden Eisenwarenhandel an Cincinnatis Anlegestelle am Ohio
(Public Landing) führte und über einen eigenen 5 Jahre lang
bewirtschafteten Weinberg schließlich ins eigene Geschäft auf der Main
Street. Der Volkszähler registrierte 1860 ein Vermögen von 5500 Dollar.
1870, nach den Jahren des Bürgerkriegs (1861-1865), gab G. Weber 240000
Dollar an. Er hat vom Bedarf der rasant wachsenden Stadt
profitiert - und vom Bedarf des Bürgerkriegs.
Der fremde Biograph möchte
seine Rekonstruktion mit der Konstruktion des Memoirenschreibers
verknüpfen. Ihn reizen Daten, die der Selbstbiograph in seinem Umfeld
nicht berücksichtigen konnte und die dieser, bewusst oder unbewusst,
nicht berücksichtigt hat. Viele Daten sind für immer verloren, einige
leicht, zahlreiche aber auch nur mühsam zu beschaffen. Und immer ist
abzuwägen und subjektiv zu bestimmen, wie weit die Netze des Kontextes
gespannt, was miteinander verknüpft und welche Knoten wie gewichtet
werden sollen. G. Webers „Kurtze beschreibung“ liefert
Anknüpfungspunkte.
Dieses immer spannende, wenn
auch zuweilen mühselige Geschäft soll hier skizziert, also aus der
Arbeit an einer genealogisch-biographischen Edition berichtet werden,
die neben die schon veröffentlichten Bauern-Briefe (Antonius Holtmann
(Hg.): Ferner thue ich euch zu wissen . . . Briefe des Johann Heinrich
zur Oeveste aus Amerika 1843 – 1876. Bremen: Edition Temmen 1996;
vergriffen, aber
online
vollständig verfügbar ) und Soldaten-Briefe
(Antonius Holtmann (Hg.):Für Gans America Gehe ich nich Wieder Bei die
Solldaten . . . Briefe des Ochtruper Auswanderers Theodor Heinrich
Brandes aus dem amerikanischen Bürgerkrieg 1862/63. Bremen: Edition
Temmen 1999) diese Kaufmanns-Erinnerungen stellen und damit Mut machen
sollen, bei genealogischen Rekonstruktionen behutsam ausgreifend über
das bereits Vorliegende hinaus zu gehen. Der französische Historiker
Alain Corbin hat gezeigt, dass dies sogar dann möglich ist, wenn nur
wenige amtliche Eintragungen vorliegen (
Auf den Spuren eines
Unbekannten. Ein Historiker rekonstruiert ein ganz gewöhnliches Leben.
Frankfurt/New York: Campus 1999).
Warum ist G. Weber „nach Amerika
zu“ gegangen?
G. Weber ist im Jahre 1803 in
einem Heuerhaus in Barenau bei Engter zur Welt gekommen, auf
historischem Boden, bei Kalkriese, wo Hermann der Cherusker mit seinen
Germanen im Jahre 9 das römische Heer unter Varus „aufgerieben“ haben
soll (
www.kalkriese-varusschlacht.de;
www.arminius-varusschlacht.de).
Diese Schlacht, ein „Abschlachten“ war es, zu rekonstruieren ist dort
immer noch ein anstrengendes und angestrengtes archäologisches
Unterfangen, das mich an Alain Corbins gelungenen Versuch erinnert, aus
dem Standesamtsregister des französischen Departements Orne „mit
geschlossenen Augen“ die Gemeinde Origny-le-Butin und Louis-Francois
Pinagot (20. Juni 1798-31. Januar 1876) herauszugreifen, der im
Gegensatz zu G. Weber keine dokumentierten Spuren und schon gar nicht
eine eigenhändige „Kurtze beschreibung“ hinterlassen hat.
G. Webers Geburtseintrag ins
Kirchenbuch ist wohl Verlusten im Bestand der St. Johannis Gemeinde in
Engter zum Opfer gefallen. Erhalten geblieben ist als vorletzte
Eintragung in Barenaus „Verzeichniß derer Copulirten“ die Eheschließung
seiner Eltern Simon Amelius Weber und Margretha Charlotte Grünemanns am
7. Juli 1785. Man könnte noch aufspüren das Konfirmandenverzeichnis,
Daten zur Bäckerlehre in Minden, zur 10jährigen Wanderschaft als
Bäckergeselle in Deutschland und in den Niederlanden und zu seiner
Verwaltertätigkeit in Bohmte.
Wir
wissen nicht, warum G. Weber „nach Amerika zu“ gegangen ist „mit wenig
Geld in der Tasche, aber immer gutes Mutes“.
Die
Rahmenbedingungen sind schnell aufgezählt:
- Um
1834 fielen die Roggenpreise. Das mag schlecht für seinen bäuerlichen
Dienstherrn gewesen sein und damit evtl. auch für den Verwalter.
- Leinenpreise und
–produktion stiegen wieder leicht an in den Jahren 1831-1834. Leinen
hatte um 1815, dank der Napoleonischen Kriege, 28 Taler je 100 m
eingebracht. 1829 gab es dafür nur noch 14 Taler, 1834 dann 17 Taler
mit stärker steigender Tendenz. Das mag auch G. Weber als unzulängliche
Veränderung misstrauisch wahrgenommen haben, wie unsereins heute die
Börsenkurse.
- Die
Hollandgängerei (Saisonarbeit in den Niederlanden) bracht nur noch die
Hälfte ein gegenüber „gewöhnlichen“ Jahren um 1820. 1833 waren es nur
noch 12-16 Taler. Das war „sehr gering, geringer noch wie in einem der
letzten Jahre“, heißt es in einem Bericht des Amtes Vörden. Das hat G.
Weber nicht betroffen, ihn aber auch wohl nicht ermutigt, im Lande zu
bleiben, das mehr und mehr Menschen nicht mehr ernährte.
- Die Markenteilung (um
1800), d. h. die Aufteilung des Gemeindelandes zu Gunsten der Bauern,
hat vielen Heuerleuten die Möglichkeit genommen, ein paar Schafe oder
eine Kuh zu halten. Auch das hat G. Weber nicht betroffen, mag ihn aber
zusätzlich entmutigt haben.
- Seit Mitte des 18.
Jahrhunderts begann die Zahl der Geborenen die der Verstorbenen, z. B.
im Kirschspiel Bramsche, zu übersteigen, zunehmend mit Beginn der
Jahrhundertwende. Knechte und Mägde und Heuerleute drängten verstärkt
auf dem ländlichen, noch statischen Arbeitsmarkt. Wer keine Heuerstelle
fand, kein Dach über dem Kopf hatte, durfte auch im Osnabrücker Land
nicht heiraten. Mecklenburgs plattdeutscher Schriftsteller Fritz Reuter hat
1857 in „Kein Hüsung“
diese Situation für viele auf den Punkt gebracht:
„Heww`n up den Harwst wi
noch kein Dack,
Denn treck wie furt mit Sack un Pack,
Denn treck w` de Kramersdörper nah,
Denn gahn wi nah Amerika.“
Diesen gern als
Auswanderursachen benannten Faktoren lag im Osnabrücker Land eine
bestimmende Sozialstruktur zu Grunde, die nach dem 30jährigen Krieg die
Zahl der landlosen Haushalte, also die der Heuerleute, exzessiv
anwachsen ließ, während die der Kleinbauern und die der Großbauern so
gut wie stabil blieb. Bauernhöfe gehörten in der Regel adeligen oder
kirchlichen Grundherren, von denen sich loszukaufen den in
Erbpacht die Höfe bewirtschaftenden Bauernfamilien
(„Colonen“) erst ab 1831 nach und nach gelang. Heuerleute lebten in
ärmlichen kleinen Heuerhäusern, gebaut nach dem Muster der
großen Bauernhäuser, auf deren Grund und Boden sie standen. Heuerleute
waren durch zumeist jährlich zu erneuernde Verträge zu Zahlungen, vor
allem aber zur willkürlich vom Bauern festzulegenden Arbeitsleistung
verpflichtet. Weil die Aufteilung der Höfe im Interesse der Grundherren
und später der eigenständigen Bauern, die diese Rechtstradition
verinnerlicht hatten, untersagt, also nur der älteste bzw. der jüngste
Sohn vor den Töchtern erbberechtigt war, produzierte dies die
dominierende „Abstiegsmobilität“, d. h. die zunehmende Armut auf dem
Lande. Die wachsende Zahl der Knechte und Mägde und der Stand der
Heuerleute rekrutierten sich aus den eigenen Kindern, aber auch aus
nicht erbberechtigten und nicht in Bauernstellen
hineingeheirateten Bauernkindern im Kontext der bereits
genannten zunehmenden kindlichen Überlebenschancen. Jürgen Schlumbohm
hat diese Probleme in einer vorbildlichen lokalen Studie
untersucht (Lebensläufe,
Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen
Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860. Göttingen:
Vandenhoeck 1994).

Gesellschaftsstrukturen und
gesellschaftliche Institutionen sind durchaus Bedingungsfaktoren für
Auswanderung, aber die meisten der davon negativ Betroffenen sind nicht
ausgewandert. Auswanderung ist immer auch eine individuelle
Entscheidung. Zu bestimmen, welchen Anteil jeweils die Strukturen (z.
B. die Besitz- und Herrschaftsverhältnisse), die Institutionen (z. B.
Verwaltungsformen Rechtsbestimmungen und Verhaltenstraditionen)
und individuelle Entscheidungen nebst Zufällen (z.
B.Vorlieben, Missernten) haben und wie weit all diese Faktoren mit
welchem Gewicht aufeinander einwirken, ist schwer zu bestimmen und
immer auch ideologie- und theorieabhängig rückblickend konstruiert. Je
mehr Gewicht auf die Strukturen und Institutionen gelegt wird, um so
eher erscheint uns Migration als ein den Migranten von den
gesellschaftlichen Verhältnissen aufgezwungenes Vorhaben. Je mehr
Gewicht auf individuelle Motive gelegt wird, um so eher erscheinen die
Migranten unabhängig und frei in ihren Entscheidungen. Wer Strukturen
und Institutionen betont, ist sich eher sicher über die Ursachen und
weiß (?) zuweilen mehr als die Betroffenen, und wer individuelle Motive
betont, hält sich eher mit Gewissheiten zurück, zumal angesichts
spärlicher Selbstbekenntnisse der Betroffenen.
Was die „Kurtze beschreibung“
anbietet
G. Weber hat seine Gründe nicht
genannt. Zielstrebig haben er und seine Mitreisenden aus
Bohmte und Umgebung sich auf den Weg gemacht nach Fort Wayne, einem
Nest im Urwald des nordöstlichen Indiana, wo Tausende Arbeit fanden
beim soeben beginnenden Kanalbau.
 | Seinen
Bericht darüber objektivierend zu ergänzen ist nur über
einige unzulängliche Daten möglich. Der „Bericht des Amtes Wittlage
Hunteburg, den15ten November 1834, betreffend die Auswanderung nach
Amerika im Jahre 1834“
enthält keine Namen, wohl aber Zahlen: 275 Personen wurden insgesamt
registriert, 60 ledige Männer und 11 ledige Frauen und 49 Familien mit
204 Angehörigen. Das Amt Hunteburg schätze den von diesen Auswanderern
in die USA mitgenommenen „ohngefähren Betrag des baaren Vermögens“ auf
27506 Taler. (Staatsarchiv Osnabrück)
45
Taler Gold habe er für die Schiffspassage bezahlt, schreibt G. Weber.
„38 Taler Gold Durchschnittspreis“ verlangte der „Schiffsmäkler J. D.
Lüdering“ am 12. Februar 1834 in einer Anzeige in den „Osnabrückischen Öffentlichen
Anzeigen“.
Wir wissen nicht, wer mit G. Weber auf der „Eleonore &
Henriette“
war (Die Passagierliste ist wohl nicht erhalten.), aber wir wissen aus
einem Bericht in den „Oldenburgischen
Blättern“ (10.
März 1835) von 100 Passagieren an Bord: Das Schiff sei von Bremerhaven
nach New York vom 10. April bis zum 23. Mai 1834 unterwegs gewesen.
„80
Personen ohne Kinder“, erinnert sich G. Weber 40 Jahre später, seien
allein aus „Bomte“ gekommen. Man habe den Ort „den 2. Ostertag (31.
März 1834) . . . mit Musik“ verlassen. G. Weber hat am Abend des 10.
April die in der Wesermündung gestrandete „Shenandoah“ gesehen; Hilfe
habe man von der „Eleonore & Henriette“ aus nicht geleistet .
Er
vermutet 125 Tote, aber von 192 Passagieren sind nach Angaben des
bremischen „Amtmann zu Bremerhaven“ 162 gerettet worden. Das
Staatsarchiv Bremen bewahrt die Unterlagen des Untersuchungsverfahrens.
Von
New York aus ging es per Schiff den Hudson hinauf bis Albany, dann in
Treidelbooten den Erie-Kanal hinauf (83 Schleusen!) bis Buffalo, über
den Erie-See nach Toledo und von dort in kleinen Booten (Kanus oder
Pirogen, d. h. Einbaum-Boote mit durch Planken erhöhten Bordwänden) dem
Maumee-River aufwärts bis Fort Wayne.
Von G. Weber gibt es keine
Spuren in Fort Wayne und von seinen
Mitreisenden vielleicht einige, die aber der fehlenden Namen wegen
nicht mehr zu entdecken sind. Erst 1837 gab es eine deutsche
evangelische Kirchengemeinde. Nichts steht in den Zeitungen und auch
nichts in den Gemeindeunterlagen. |
G. Weber berichtet von harter
Arbeit, schlecht bezahlt, und von Fiebererkrankungen, die seine Leute
aus Bohmte dahingerafft haben sollen. Briefe eines anglikanischen
Geistlichen bestätigen zahlreiche Todesfälle, wollen aber in Fort Wayne
von der im Lande grassierenden Cholera nichts wissen. Auch G. Weber
erkrankt, erholt sich nur nach und nach, findet Arbeit in einer
Kantine. Er geht im Herbst 1834 nach Cincinnati.

Diese Stadt ist die verlockende
„Königin des Westens“ am Ohio, dem Ausgangspunkt für viele, die sich
nach einiger Zeit in Ohio, Indiana und Illinois niederließen, im
damaligen Westen, der nur bis zum Mississippi reichte, hinter dem das
noch 1830 den Indianern zugesicherte („so lange das Gras wächst und die
Wasser fließen“) Land lag. 5 % der 1830 gut 24000 Einwohner waren
Deutsche, 1860 waren es knapp 50000 von gut 160000. G. Weber
findet Arbeit im Steinbruch, sehr bald aber schon in Shoenbergers
Eisenwarenhandel an Public Landing, dem „Hafen“ der Stadt am Ohio. Die
Familie Shoenberger war eine der ersten Adressen in Pennsylvanias
Stahlindustrie rund um Pittsburgh. Jetzt erschloss sie sich die
aufblühenden Märkte den Ohio und den Mississippi hinab bis nach St.
Louis und Memphis. G. Weber avancierte für 20 Jahre zum Adlatus dieses
Zweiges der deutsch-amerikanischen Shoenberger-Familie. Er verwaltete
schon bald die Geschäft am belebten Hafen, ging mit dem Herrn des
Hauses und dessen Kinder auf die Jagd.

Er erlebte um 1867 den Bau der
herrschaftlichen Villa (440 Lafayette Avenue im vornehmen Stadtteil
Clifton: jetzt „Scarlet Oaks Retirement Community“:
http://scarletoaksretirementcommunity.com)
mit dem ungehinderten vereinnahmenden Blick auf Spring Grove
(„Frühlingshain“), dem von Adolph Strauch (1822-1883, vom Fürsten von
Pückler geförderter Landschaftsgärtner aus Schlesien) als
Parklandschaft gestalteten Friedhof des wohlhabenden und nicht
kirchlich verpflichteten Bürgertums der Stadt. Der an den Parkanlagen
von Muskau und Branitz geschulte „Gärtner“ hat auch das Umfeld der
Shoenbergerschen Villa entworfen.

Der Cincinnati Enquirer
(5. Dezember 1880) nannte George H. Shoenberger einen „Iron
King“(„Eisen-König“), der sich zur Ruhe gesetzt habe. Er lebe in einer
(palastartigen) „palatial residence“, und sein Vermögen werde auf „$
5.000.000“ geschätzt. Die New
York Times (10. Dezember 1880) übernahm den Bericht:
„“CINCINNAT’S RICH MEN. SOME OF ITS CITIZENS WHO ARE CREDITED WITH THE
POSSESSION OF MILLIONS”.
 | Auf Spring Grove hat G. Weber
sich schon 1873 für 470 Dollar eine
Grabstelle gekauft „für unser Ganze familige“ und einen Obelisk (grch.
„Bratspießchen“) darauf gestellt, „20 fuß hog“ für „1500 Dollar“: „Nach
den Tode wird Ein jeder Vergesen, und es ist auch gut. Aber ich denke,
ich Habe ihr eine Erinrung Nach gelassen. Des Halb Habe ich den Platz
gekauft und ein schönes denkmahls Richten Lassen . . .“ G. Weber hatte
sich damit ins wohlhabende Bürgertum eingekauft. ( www.springgrove.org/Cemeteries.shtm
> Locate
a Loved One > Search By Name: First Name: Gottfried; Second
Name:
Weber > ID 49338. - Oder
zur Familiengruft: Search By Location:
Garden: Land; Section: 14; Lot: 7)
G. Weber geht recht kritisch
mit seiner Familie um. Er berichtet
vom Streit mit seinen Söhnen: „Da die Kinder Klein waren, hatte ich
Vergnügn, da sie Menner Sein, Verdruß“. Er berichte vom Streit mit
seiner Frau. Sie sei ihm niemals eine „Stütze“ gewesen: „Was ein Kloz
ist, bleibt ein Klotz“. |

G. Weber berichtet, er habe
1860 das Osnabrücker Land besucht, wo er sich aber nicht mehr
wohlgefühlt habe. An Bord des ersten Überseedampfers des Norddeutschen
Lloyd, der „Bremen“, ist er sehr wahrscheinlich am 26. Juli 1860 in New
York eingetroffen. Die Passagierliste registriert im Zwischendeck einen
amerikanischen „Farmer Gottf. Weber, 46 years“, auf dem Weg nach
„Cincinnati“ (National
Archives, Washington D.C.: Original New York Passenger Lists).
Er hatte seinen „Weinberg“ (Vgl. den übernächsten Absatz.) zwar seit
1859 verpachtet, aber noch nicht verkauft (1862). Da war „Farmer“ eine
angesehene und auch wohl noch zulässige Berufsbezeichnung. Wenige Tage
vor Ablegen (7. Juli 1860) der „Bremen“ in Bremerhaven war er 56 Jahre
alt geworden. Man könnte sich beim Eintragen des Alters verhört oder
vertan haben, oder Gottfried Weber hat sich um 10 Jahre „verjüngt“.
Wohlgefühlt hat er sich aber
1867 in Berlin, im Haus Bethanien, dem unter königlicher Protektion
stehenden Diakonissenkrankenhaus in Kreuzberg (heute:
www.kunstraumkreuzberg.de).
Albrecht von Graefe (1828-1870), Berlins berühmter Augenarzt der
Reichen und der Armen (Als erster hat er den Grauen Star operiert.),
hatte ihn behandelt und „Schwester Julie“ hat ihn in
Bethanien gepflegt, ihm das „Leben gerettet“. Er schenkte ihr, gegen
alle Vorschriften scheint man es geduldet zu haben, eine goldene Uhr
und im Gottesdienst wurde er verabschiedet. Mit dem amerikanischen
Raddampfer „Northern Light“ traf er am 29. August 1867 in New York ein,
begleitet von seinem Sohn Wilhelm. Als 60jähriger ist er in der
Passagierliste eingetragen. Als er am 10./11. August 1867 in
Bremerhaven an Bord ging, war er seit 7 Wochen 64 Jahre alt (
National Archives, Washington
D.C.: Original New York Passenger Lists.).

Und er erzählt von seinem
„Weinberg“, den er von 1850-1862 besessen und doch noch mit Gewinn
(2000 Dollar) verkauft hat, obgleich die Reblaus das Experiment am
Ohio, auf das sich einige Deutsche eingelassen hatten, zunichte machte,
bevor der Schädling auch den Atlantik überquerte und europäische
Weinberge verheerte. Nach diesem Zwischenspiel findet er rechtzeitig,
zu Beginn des Bürgerkrieges (1861-1865), zurück in den
Eisenwarenhandel, und mit dem während des Krieges für Handel und
Schmuggel vorteilhaften unentschiedenen Kentucky vor der Tür: „Man Muß
das Eisen Hammer, so Lange bis es noch Heiß ist“. Das hat er mit Erfolg
getan: Die Volkszählung (Census) von 1860 weist den Wert seines
immobilen Vermögens mit $ 15.000 und den seines mobilen Vermögens mit $
500 nach. 1870 sind es $ 40.000 bzw. $ 200.000 (National Archives, Washington
D.C.: Census 1860, 1870).
1862 hat er seinen eigenen
Eisenwarenhandel an der Main Street Nr. 360 zwischen der 8. und der 9.
Straße (Heute parkt man dort innerstädtisch:
http://maps.google.com
> Satellit > Street View: 842 Main St., Cincinnati, Ohio,
United States.) 1863 gehört ihm das bebaute Grundstück gegen Zahlung
von $ 1.500 (
Hamilton
County Courthouse: Deed Book). Und er wohnt auch hier
zunächst. 1865 registriert
Williams’
Cincinnati Directory ihn und seine Söhne Georg und
Wilhelm: „Weber & Co. (
Gottfreid
W & Geo. W. W. W.), Dealers in Hardware, Iron,
Nails and Steel, 360 Main“), 1867 nur noch seine drei Söhne Wilhelm,
Martin und Georg. In diesem Jahr kaufen sie noch das nördliche
Eckgrundstück zur 9. Straße hinzu; 1914 erhalten die Erben dafür von
der Second National Bank $ 20.000 (
Deed
Book). Deren „Neubau“ steht dort noch heute (
http://maps.google.com
> Satellit > Street View: 872 Main St., Cincinnati, Ohio,
United States).

Schon 1864 hat Gottfried Weber
zwei Wohnhäuser gekauft, nur wenige Schritte vom Geschäft entfernt, in
der 8th St. (Nr. 14/16 West), zwischen Main St. und Walnut St., nicht
im deutschen Viertel, (selbst-) ironisch „Over the Rhine“ genannt
(nördlich des verdreckten innerstädtischen Teils des
Miamie-Erie-Kanals, heute Central Parkway), sondern in guter
angelsächsischer Lage in der Innenstadt. $ 13.000 hatte er dafür
hergegeben (
Deed Book):
„Der Handel ging gut und es wurde auch was verdient“. In Simon Arnolds
Saloon, seit 1861 in der 8. St., , nur wenige Schritte von Geschäft und
Wohnung entfernt, dürfte er nicht eben selten mit geschäftsfreunden
eingekehrt sein.. Haus und Einrichtung sind bis heute weitgehend
erhalten (
www.arnoldsbarandgrill.com).

Der deutsche Alltag in
Cincinnati wird nicht erzählt, nicht sein 15monatiger (1844-1846)
Dienst in der Feuerwehr, nicht die Deutschen und Iren geltenden
Krawalle nativistischer Gegner der Masseneinwanderung armer und ärmster
Europäer, nicht die Kriegsgegnerschaft der Demokratischen Partei. Er
attackiert sie, aber nur ihre katholische Klientel. Er ergreift Partei
für Abraham Lincoln und für die Republikaner: Gottfried Weber ist
wohlhabend geworden.
Was die „Kurtze beschreibung“
nicht anbietet
Was
nun folgt, mag G. Weber im Jahre 1877 nicht eingefallen sein oder eben
mit guten Gründen verschwiegen haben; wir wissen es nicht.
Seine Steuerzahlungen zum
Beispiel: Ich habe sie in Cincinnati (noch) nicht
gefunden. Sie könnten dem Niederbrennen der Kreisverwaltung
(Hamilton County Courthouse) im Jahre 1884 zum Opfer gefallen
sein, als eine aufgebrachte Menge nach einem als rassistisch
wahrgenommenen Urteil in einem Mordprozess zu Gunsten eines Deutschen
das Gebäude stürmte.
Seine Hochzeit zum Beispiel:
Am 27. Februar 1835 hat er Cathr. Elisabeth Boje geheiratet. Sie kam
aus „Herde (?) bei Osnabrück“. Er mag sie schon in Deutschland gekannt
haben, denn wenige Wochen nach seiner Ankunft in Cincinnati haben die
beiden in der deutschen evangelischen reformierten und lutherischen St.
Johannes Kirche vor dem Traualtar gestanden. Sie haben nicht heiraten
„müssen“: Der älteste Sohn Martin ist am 15. Februar 1836 zur Welt
gekommen.
Seine Kirchengründungen zum
Beispiel: Bei der turbulenten Abspaltung der Lutherischen
„Plattdeutschen Kirche“ war er mit von der Partie. Als „Norddeutsche
Lutherische Kirche“ (Walnut St. / 9. St.; nicht erhalten) war sie aus
der „Deutschen Lutherischen und Reformierten St. Johannes Gemeinde“
(Seit 1868 an der Elm St. / 12. St.:
http://maps.google.com
> Satellit> Street View: 1222 Elm St., Cincinnati, Ohio,
United States) hervorgegangen:
„Um der Streitigkeiten von 1838 willen
kann . . . Niemand in den Kirchenrath gewählt werden, der der
Plattdeutschen Sprache nicht mächtig ist“, schrieben die Gründungsväter
sich in ihre „Constitution“. St. Johannes reagierte prompt in seiner
wohl daraufhin überarbeiteten „Verfassung“ von 1839: „Um allen
provinzialischen Vorurtheilen vorzubeugen findet es die Gemeinde für
nothwendig, nur drei Gemeindemitglieder aus einer Provinz zu wählen.
Alle Norddeutschen zählen jedoch zusammen nur eine Provinz“.

1845 ist G. Weber
wieder dabei, als sich eher liberale Mitglieder von den norddeutschen
Lutheranern abspalten: „§ 2: Die Eigenthümer der Kirche nennen sich:
‚Deutsche evangelische St. Paulus Gemeinde’. Sie können sowohl zur
lutherischen, als zur reformierten Confession sich bekennen“. G. Weber
sagt nichts zu den Aktivitäten, die er dort im Kirchenrat, als Hüter
der Finanzen, entfaltet hat. 1850 stimmt er gegen einen neuen
Kirchenbau (Seit 1851 an der Race St. / 15. St.:
http://maps.google.com
> Satellit > Street View: 1448 Race St., Cincinnati,
Ohio, United States): Er kehrt zur lutherischen und Reformierten St.
Johannes - Gemeinde zurück. Dort ist sein Name im Sterberegister
eingetragen (29. September 1890).
Seine Gründungsmitgliedschaft im
„Deutschen Pionier-Verein von Cincinnati“ (1869) zum Beispiel (online):
Lange Jahre ist G. Weber dort „Schatzmeister“ gewesen. „Der Deutsche Pionier“(online)
(18 Bände), war das Vereinsblatt, eine Fundgrube für die Geschichte der
ersten deutschen Einwanderer im Mittleren Westen. Die „Constitution“
sagt in § 2: „Jeder eingewanderte Deutsche, welcher 25 Jahre in
Cincinnati oder Umgegend gewohnt, und das Alter von 40 Jahren erreicht
hat, kann durch Stimmenmehrheit aufgenommen . . . werden“. Die 48er
Revolutionäre, Schreibtischtäter in den Augen so mancher Bauern,
Handwerker und Kaufleute, blieben dadurch zunächst einmal außen
vor - zumindest 4 Jahre lang:
„Ja fördert Ihr die deutsche Sitte!
Nicht Politik, nicht Religion
Sei jemals in der Kämpen Mitte
Der Gegenstand der Discussion.
Nein! Festigt enge Bande!
Webt das Erlebte froh hinein!
Weit klingt der Ruf im ganzen Lande:
Hoch deutschem
Pionierverein!“
Seine amerikanische
Überlieferung des „Lied(es) aus Amerika“ zum Beispiel: Hier im
Pionierverein hat G. Weber 1875 das „Lied aus Amerika“ vorgelesen :
(online)
„Heil Dir Columbus, sei gepriesen,
Sei hochgelobt in Ewigkeit!
Du hast uns einen Weg gewiesen,
Der uns aus harter Dienstbarkeit
Erretten kann, wenn man es wagt
Und seinem Vaterland entsagt.“
Nahezu gleichlautende 49
Strophen dieses Gedichts
(online)
kursierten im Frühjahr 1833 im Osnabrücker Land, angeblich
verfasst von einem „Franz Lahmeyer“ als „Sinnreiche Einfälle in Stunden
froher Laune über mein Vaterland Europa verglichen mit den vereinten
Amerikanischen Staaten, gewidmet für meine europäischen Freunde im
Königreich Hanover“. Im „Amte Wittlage – Hunteburg“ sei es vor allem
verbreitet worden, berichtete der „Landdragoner Lange“ seinen Oberen.
Es schildere „die großen Vortheile America`s gegen die deutsche
Verfassung“, und es könne „sich hauptsächlich zur Aufwiegelung eignen .
. . oder eine Aufmunterung sein, das Vaterland zu verlassen, weil der
jetzige Zeitgeist für so etwas besonders empfänglich“ sei. Das
„Königlich Großbritannisch – Hannoversche Ministerium des Innern“
reagierte im Mai 1833 gelassen. Das Gedicht sei bei Gelegenheit zu
„konfiszieren“, und dann seien halt auch „die Besitzer der gedachten
Verse über deren Unwerth und schlechte Tendenz auf eine angemessene
Weise aufzuklären“ (Staatsarchiv Osnabrück). „Nachdem aber keine
gedruckten Exemplare mehr zu haben waren, wurden viele hundert Copien
im Geheimen abgeschrieben, und wenn die Burschen in den Schenken sich
von der Beobachtung der Polizei frei wähnten, dann wurde angestimmt:
Heil dir, Columbus, sei gepriesen“. Das schrieb Heinrich Arminius
Rattermann, „Redacteur“ des „Deutschen Pionier“, aus Ankum (Landdrostei
Osnabrück) gebürtig, , als er G. Webers „einziges . . . zur Verfügung
stehende augenscheinlich fehlerhaft copirte Exemplar“ druckte, „etwas
abgefeilt, um es einigermaßen mundgerecht zu machen, jedoch so, dass es
den ursprünglichen Charakter bewahrt hat“. Das „nach Orthographie und
Syntax höchst mangelhafte Gedicht“ habe „zu Anfang der dreißiger Jahre
vielfach junge Leute aus den oldenburgischen und osnabrücker Landen zur
Auswanderung“ angeregt. Franz Joseph Stallo, Buchbinder und wohl auch
Buchdrucker und Dorfschullehrer im südoldenburgischen Damme
(Oldenburger Münsterland) habe es im März/April 1831 aus den USA
erhalten und in Damme gedruckt und verbreitet. Man habe ihn mehrere
Monate inhaftiert. Danach sei er im Herbst 1831 in die USA
ausgewandert, „über Philadelphia“. Franz Joseph Stallo ist aber schon
Ende April 1831 mit der „Juno“ nach New York gereist und dort am 22.
Juni 1831 eingetroffen (
National
Archives Microfilm Publications, M 237, Roll 14).
Zumindest
hat Gottfried Weber eine Abschrift mit nach Amerika genommen und 40
Jahre lang aufbewahrt, wer immer auch den Text (ab)geschrieben und
verbreitet haben mag (online).
Ein Nachruf
 | G.
Weber hat für seine „Kurtze beschreibung“ anderes ausgewählt
und in
ihr auch andere Akzente gesetzt als der Nachruf aus dem Jahre 1890 im
mittlerweile vom Monatsblatt zum Jahresbericht des Vorstandes
geschrumpften „Deutschen Pionier“. Dieselben Daten ergeben
unterschiedliche Bilder, und in der Erinnerung, aber auch aus
Unkenntnis wird so Manches verfälscht. Er ist z. B.
erst 1834 nach
Fort Wayne ausgewandert und nicht schon 1821 nach Cincinnati. Im
Februar 1835 hat er geheiratet und nicht im Mai 1835 (St. Paul,
Familienregister, 1845). Seine Braut hieß nicht Boeser, sondern Boje.
Und glücklich war die Ehe auch nicht. Und bei der Feuerwehr hat er nur
kurzzeitig ziemlich passiv gedient („an einer Erkrankung in der Brust
leidend“), von Anfang Januar 1844 bis Anfang April 1846 (Cincinnati
Museum Center). |  |
Eine Nachbemerkung
Dieser Bericht aus meiner
„Werkstatt“ mag den einen oder anderen ahnen oder auch
bewusst werden lassen, wie weit das Netz gespannt werden kann, in dem
Gottfried Weber gelebt hat. Es lässt unterschiedliche Verknüpfungen der
Bezugsfäden zu, unterschiedliche Gewichtung der entscheidenden
Knotenpunkte auch. Und es lässt Veranschaulichungen zu, die
unterschiedliche Lebensbilder entstehen lassen, Konstruktionen eben. Im
Konjunktiv dürften Memoiren und Nachrufe und Biographien
zumeist nur geschrieben sein.
Ich wollte
ermutigen zu eigenen Re-Konstruktionen - mit dem
Konjunktiv im Hinterkopf als genealogische „reservatio
mentalis“.
[Dieser 2010 nur online
angebotene
überarbeitete und nun reichlicher bebilderte Vortrag ist erstmal
erschienen in: Die Maus, Gesellschaft für Familienforschung e. V.
(Hg.): Genealogie und Auswanderung: Über Bremen in die Welt; Grußworte
und Vorträge zum 54. Deutschen Genealogentag in Bremen.
Clausthal-Zellerfeld: Papierflieger 2002, 59-70. Die
Erstfassung steht
auch online zur Verfügung: www.genealogienetz.de/vereine/maus/blaetter/dgt2002_seite_59-70.pdf. Belege für die Aussagen
in der hier referierten Skizze befinden sich in der Forschungsstelle
Deutsche Auswanderer in den USA (www.dausa.de).
Eine Veröffentlichung der „Kurtzen beschreibung“ des Gottfried Weber,
umfassend eingeleitet, bebildert und annotiert, ist absehbar.] |